Hinterher hatte sich das Thema jedoch nicht mehr so leicht beiseite schieben lassen. Das lag daran, dass es sich nicht einfach um irgendwelche Albträume handelte, was an sich schon beunruhigend gewesen wäre. Nein, nach allem, was sie in Erfahrung bringen konnte, war Nagorny von immergleichen, ungemein realistischen Traumbildern gequält worden, in denen zumeist ein Wesen namens Sonnendieb die Hauptrolle spielte. Dieser Sonnendieb war Nagornys persönlicher Peiniger. In welcher Gestalt er dem Kranken erschien, ließ sich nicht genau beschreiben, doch er verbreitete ohne jeden Zweifel eine überwältigende Atmosphäre des Bösen. Volyova hatte etwas davon in den Skizzen gespürt, die sie in Nagornys Unterkunft gefunden hatte: grässliche Vogelgestalten, mit hektischen Bleistiftstrichen aufs Papier geworfen, Gerippe mit leeren Augenhöhlen. Wenn das ein Blick in Nagornys krankes Hirn war, dann hatte sie mehr als genug gesehen. Aber in welcher Beziehung standen diese Wahngebilde zu den Trainingsperioden im Feuerleitstand? Durch welchen unbekannten Defekt in ihrem neuralen Interface wurden Ströme in jenen Teil des Bewusstseins geleitet, der Schreckensbilder erzeugte? Im Rückblick war ihr klar, dass sie den Mann zu hart angepackt, zu sehr zur Eile gedrängt hatte. Aber sie hatte ihrerseits nur Sajakis Anweisung befolgt, für die Einsatzbereitschaft des Waffenarsenals zu sorgen.
Nagorny war also übergeschnappt und hatte sich in Teile des Schiffs geflüchtet, die nicht überwacht wurden. Die Empfehlung des Captains, den Mann zu verfolgen und zu töten, hatte nur bestätigt, was auch ihre eigenen Instinkte ihr rieten. Aber die Suche hatte etliche Tage gedauert. Volyova musste in möglichst vielen Korridoren Sensorennetze auslegen und jedem Hinweis ihrer Ratten auf Nagornys Verbleib nachgehen. Sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Nagorny würde immer noch auf freiem Fuß sein, wenn das Schiff im Yellowstone-System eintraf und die übrige Besatzung geweckt wurde…
Doch dann hatte Nagorny in seinem Wahn zwei Fehler begangen, die allem die Krone aufsetzten. Zuerst war er in ihre Kabine eingebrochen und hatte mit seinem eigenen Blut eine Botschaft an die Wand geschrieben. Es war eine sehr einfache Botschaft. Volyova hätte sich denken können, welches Wort ihr Nagorny hinterlassen würde.
SONNENDIEB.
Anschließend hatte er, eine fast schon vernünftige Handlungsweise, ihren Raumhelm gestohlen, den Rest des Anzugs aber zurückgelassen. Der Einbruch hatte Volyova in ihre Kabine gelockt, und dort war sie von Nagorny überrumpelt worden, obwohl sie sich vorgesehen hatte. Er hatte ihr die Waffe abgenommen, die Arme auf den Rücken gedreht und sie zum nächsten Fahrstuhlschacht geschoben. Volyova hatte sich gewehrt, aber Nagorny hatte die Kräfte eines Wahnsinnigen und hielt sie wie in einem Schraubstock. Dennoch rechnete sie damit, dass sich eine Fluchtmöglichkeit ergeben würde, wenn erst der Fahrstuhl eintraf und Nagorny sie an den Ort seiner Wahl brachte.
Aber Nagorny dachte nicht daran, auf den Fahrstuhl zu warten. Er brach mit ihrer Waffe die Tür auf. Vor ihren Füßen gähnten die leeren Tiefen des Schachts. Unsanft und ohne ein Wort des Abschieds stieß der Irre Volyova in das Loch.
Das war ein schwerer Fehler.
Der Schacht durchlief das Schiff vom Bug bis zum Heck; sie hatte kilometerweit zu fallen, bevor sie unten aufschlug. Im ersten Schreck hatte sie zunächst auch angenommen, dass es dazu kommen würde. Sie würde stürzen, bis sie unten ankam — und ob das nur wenige Sekunden oder fast eine Minute dauerte, war vollkommen bedeutungslos. Die Schachtwände waren spiegelglatt, sie boten nirgends Halt, und es gab nichts, was den Sturz hätte bremsen können.
Doch dann hatte sich ihr Verstand eingeschaltet und das Problem noch einmal analysiert — mit einer Gelassenheit, die sie später schockierend fand. Sie hatte sich selbst von außen gesehen, aber sie stürzte nicht durch das Schiff, sondern verharrte im Nichts, schwebte völlig reglos vor den Sternen. In Bewegung war vielmehr das Schiff: es raste an ihr vorbei nach oben. Sie selbst stand nicht unter Beschleunigung — und das Schiff wurde nur durch die Triebwerke beschleunigt.
Und die konnte sie über ihr Armband steuern.
Volyova blieb keine Zeit, über Einzelheiten nachzudenken. Sie hatte eine Idee — zündend wie eine Explosion — und wenn sie die nicht sofort ausführte, musste sie sich wohl oder übel in ihr Schicksal ergeben. Sie konnte ihren Sturz — ihren scheinbaren Sturz — bremsen, indem sie den Schub des Schiffs so lange umkehrte, wie es erforderlich war, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Derzeit betrug der Nominalschub 1 Ge, deshalb hatte Nagorny das Schiff auch ohne weiteres mit einem hohen Gebäude verwechselt. Sie war vielleicht zehn Sekunden gefallen, bis ihr Verstand die Lage so weit erfasst hatte. Was also brauchte sie? Zehn Sekunden Retroschub mit 1 Ge? Nein, das war zu konservativ gedacht. Womöglich war der Schacht unter ihr nicht lang genug. Da war es schon besser, für eine Sekunde auf zehn Ge zu gehen — die Triebwerke konnten das schaffen. Die übrige Besatzung lag sicher in ihren Kälteschlaftanks und würde keinen Schaden nehmen. Auch ihr selbst würde nichts passieren — sie konnte nur beobachten, wie die vorbeirasenden Schachtwände schlagartig langsamer wurden.
Nagorny war allerdings nicht so gut geschützt.
Es war nicht einfach gewesen — ihre Stimme ging fast unter im Rauschen der Luft, als sie die entsprechenden Anweisungen in das Armband schrie. Erst nach quälenden Augenblicken der Unsicherheit hatte das Schiff endlich Notiz von ihr genommen.
Doch dann hatte es — wie es sich gehörte — ihren Befehl befolgt.
Später hatte sie Nagorny gefunden. Eine Sekunde bei zehn Ge wäre unter normalen Umständen nicht tödlich gewesen. Aber Volyova hatte ihre eigene Geschwindigkeit nicht sofort auf Null reduziert. Sie hatte mehrere Versuche dazu gebraucht und Nagorny war mit jeder Schubumkehr zwischen Boden und Decke hin und her geschleudert worden.
Auch sie selbst hatte einiges abbekommen; beim Sturz war sie mehrfach gegen die Schachtwand geprallt und hatte sich ein Bein gebrochen, aber das war jetzt verheilt und sie hatte nur noch eine schwache Erinnerung an den Schmerz.
Sie hatte sogar daran gedacht, Nagornys Kopf mit der Laserkürette abzutrennen. Sie musste ihm den Schädel öffnen, um die hochspezialisierten Implantate aus seinem Gehirn entfernen zu können. Die Implantate waren sehr empfindlich. Sie hatte sie mit komplizierten molekularen Interventionsverfahren selbst gezüchtet und wollte möglichst vermeiden, sie kopieren zu müssen.
Jetzt war es an der Zeit, mit der Operation zu beginnen.
Sie nahm den Kopf aus dem Helm und legte ihn in ein Bad aus flüssigem Stickstoff. Dann fuhr sie in zwei motorisierte Handschuhe, die in einer Halterung über der Werkbank schwebten. Blanke chirurgische Instrumente in Miniaturausführung erwachten mit leisem Schwirren zum Leben und senkten sich herab, um Teile aus der Schädeldecke zu schneiden, die sich hinterher mit absoluter Präzision wieder einpassen ließen. Doch bevor Volyova den Kopf wieder zusammensetzte, wollte sie Ersatzimplantate einpflanzen, damit sich — sollte er jemals untersucht werden — nicht sofort feststellen ließe, dass sie etwas herausgenommen hatte. Sie musste ihn auch wieder am Körper befestigen — aber das war wohl kein allzu großes Problem. Wenn die anderen erfuhren, was mit Nagorny geschehen war — wenn sie ihnen ihre Version der Geschichte glaubhaft machen konnte — würden sie wohl nicht auf einer allzu gründlichen Untersuchung bestehen. Nur Sudjic könnte Schwierigkeiten machen — sie und Nagorny waren ein Liebespaar gewesen, bevor Nagorny den Verstand verlor.
Doch diese Brücke wollte Ilia Volyova erst überschreiten, wenn die Zeit dafür gekommen war — so hatte sie es immer gehalten.
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