Und dann sah er etwas über den östlichen Horizont heraufsteigen, das auf dem friedlichen Thalassa miterleben zu müssen er nie geglaubt hätte. Es war die Pilzwolke, die die Alpträume der Menschen zweitausend Jahre lang bevölkert hatte.
Was hatte Brant denn vor? Er sollte doch wohl eigentlich auf das Land zuhalten; statt dessen wendete er die ‚Calypso‘ so eng wie möglich und fuhr aufs offene Meer hinaus. Aber er schien jedenfalls das Kommando übernommen zu haben, während alle anderen auf Deck mit offenem Munde nach Osten starrten.
„Krakan!“ flüsterte einer der Wissenschaftler aus dem Norden, und einen Augenblick lang glaubte Loren, er verwende nur das überstrapazierte, lassanische Schimpfwort. Dann verstand er, und eine riesige Erleichterung überflutete ihn. Sie sollte aber nur von kurzer Dauer sein.
„Nein“, sagte Kumar und schaute sehr besorgt drein. „Nicht Krakan — viel näher. Krakans Kind.“
Der Schiffsfunk stieß jetzt ständig piepsende Alarmsignale aus, unterbrochen von regelmäßigen Warnrufen. Loren hatte keine Zeit, etwas davon aufzunehmen, als er sah, daß mit dem Horizont etwas sehr Sonderbares passierte. Er war nicht da, wo er sein sollte!
Das war alles sehr verwirrend; seine Gedanken waren zur Hälfte noch unten bei den Skorps, und auch jetzt mußte er ständig gegen die Helligkeit von Meer und Himmel anblinzeln. Vielleicht stimmte mit seinen Augen etwas nicht. Obwohl er ganz sicher war, daß die ‚Calypso‘ jetzt auf ebenem Kiel lief, sagten ihm seine Augen, daß sie steil nach unten tauchte.
Nein; das Meer stieg herauf, mit einem Donnern, das jetzt alle anderen Geräusche übertönte. Er wagte nicht, die Höhe der Woge abzuschätzen, die auf sie herunterstürzte; jetzt verstand er, warum Brant auf tiefes Wasser hinaussteuerte, weg von den tödlichen Untiefen, an denen der Tsunami jetzt gleich seine Wut auslassen würde.
Eine Riesenhand erfaßte die ‚Calypso‘, hob ihren Bug hoch hinauf, auf den Zenit zu. Loren begann hilflos über das Deck zu rutschen; er wollte nach einem Pfosten greifen, verfehlte ihn aber und fand sich im Wasser wieder.
Denk an dein Katastrophentraining, sagte er sich wütend. Ob im Meer oder im Weltraum, das Prinzip ist immer das gleiche. Die größte Gefahr ist die Panik, also behalte einen klaren Kopf!
Er war nicht in Gefahr zu ertrinken; dafür würde seine Schwimmweste sorgen. Aber wo war der Hebel zum Aufblasen? Seine Finger tasteten zitternd an den Taillengurten herum, und trotz aller Entschlossenheit spürte er kurz einen eiskalten Schauder, ehe er die Metallstange fand. Sie bewegte sich leicht, und er spürte höchst erleichtert, wie sich die Jacke um ihn herum ausdehnte und ihn in einer willkommenen Umarmung umschloß.
Jetzt konnte nur noch von der ‚Calypso‘ selbst eine echte Gefahr ausgehen, wenn sie zurückkippte und ihm auf den Kopf krachte. Wo war das Schiff?
Viel zu nahe für seinen Geschmack in diesem tobenden Wasser, und ein Teil ihres Decksgehäuses hing auch noch ins Meer. Unglaublicherweise schienen die meisten Besatzungsmitglieder noch an Bord zu sein.
Jetzt deuteten sie auf ihn, und jemand schickte sich an, ihm einen Rettungsgurt zuzuwerfen.
Das Wasser war voll herumschwimmender Trümmer — Stühle, Kisten, Geräteteile — und da ging der Schlitten dahin, versank langsam und sprudelte Blasen aus einem beschädigten Schwimmtank. Hoffentlich können sie ihn retten, dachte Loren. Wenn nicht, war das ein sehr teurer Ausflug, und es kann lange dauern, bis wir die Skorps wieder studieren können. Er war ziemlich stolz auf sich, weil er in Anbetracht der Umstände die Situation so ruhig einschätzte.
Etwas streifte gegen sein rechtes Bein; mit einem automatischen Reflex wollte er es wegtreten. Obwohl es unangenehm ins Fleisch biß, war er eher verärgert als erschrocken. Er schwamm sicher, die Riesenwoge war vorüber, jetzt konnte ihm nichts mehr passieren.
Er trat wieder danach, diesmal vorsichtiger. Und während er das tat, spürte er, wie sich sein rechter Fuß ebenso verhedderte. Und jetzt war es kein neutrales Streicheln mehr; trotz des Auftriebs, den ihm seine Schwimmweste gab, wollte ihn etwas unter Wasser ziehen.
In diesem Augenblick spürte Loren Lorenson zum erstenmal wirkliche Panik, denn er erinnerte sich plötzlich an die suchenden Tentakel des großen Polypen. Aber die mußten doch weich und fleischig sein — das hier war unverkennbar ein Draht oder ein Kabel. Natürlich — es war die Nabelschnur des sinkenden Schlittens.
Vielleicht hätte er sich immer noch freimachen können, wenn er nicht in einer unerwarteten Welle einen Mund voll Wasser geschluckt hätte. Würgend und hustend versuchte er, seine Lungen freizubekommen und sich gleichzeitig durch Tritte von dem Kabel zu lösen.
Und dann war die Lebensgrenze zwischen Luft und Wasser — zwischen Leben und Tod — weniger als einen Meter über ihm; aber er hatte keine Möglichkeit, sie zu erreichen.
In einem solchen Augenblick denkt der Mensch an nichts anderes als an sein eigenes Überleben. Es gab keine Rückblenden, kein Trauern um ein vergangenes Leben — nicht einmal ein flüchtiges Bild von Mirissa.
Als er erkannte, daß alles vorüber war, verspürte er keine Angst. Sein letzter, bewußter Gedanke war reiner Zorn darüber, daß er fünfzig Lichtjahre weit gereist war, nur um ein so triviales, so wenig heldenhaftes Ende zu finden.
Und so starb Loren Lorenson in den warmen Untiefen des thalassanischen Meeres zum zweitenmal. Er hatte aus der Erfahrung nichts gelernt; der erste Tod vor zweihundert Jahren war viel leichter gewesen.
Fünfter Teil
Das Bounty-Syndrom
Obwohl Kapitän Sirdar Bey abgestritten hätte, auch nur ein Milligramm Aberglauben in sich zu haben, fing er immer an, sich Sorgen zu machen, wenn alles gut ging. Thalassa war bisher fast zu schön gewesen, um wahr zu sein; alles war nach den optimistischsten Planungen verlaufen. Der Schild wurde genau termingemäß gebaut, und es hatte bisher absolut keine Probleme gegeben, über die zu reden sich gelohnt hätte.
Aber jetzt, alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden…
Natürlich hätte es viel schlimmer sein können. Kapitänleutnant Lorenson hatte sehr, sehr großes Glück gehabt — dank dieses Jungen. (Sie mußten etwas für ihn tun…) Nach den Aussagen der Ärzte war es äußerst knapp gewesen. Noch ein paar Minuten länger, und der Gehirnschaden wäre nicht mehr rückgängig zu machen gewesen.
Verärgert, weil er sich von dem unmittelbar anstehenden Problem hatte ablenken lassen, las der Kapitän die Botschaft, die er jetzt schon auswendig kannte, noch einmal:
SCHIFFSSENDER: OHNE DATUM UND ZEITANGABE AN: KAPITÄN VON: ANONYM
Sir: Einige von uns möchten folgenden Vorschlag machen, über den Sie allen Ernstes nachdenken sollten. Wir beantragen, daß unsere Mission hier, auf Thalassa, ihr Ziel findet. Damit wären alle Pläne verwirklicht, ohne die zusätzlichen Risiken, die mit einer Weiterreise nach Sagan Zwei verbunden wären. Wir sind uns völlig im klaren darüber, daß sich daraus Probleme mit der bestehenden Bevölkerung ergeben werden, glauben aber, daß diese mit der Technologie gelöst werden können, die wir besitzen — insbesondere durch den Einsatz tektonischer Veränderungstechniken, um die zur Verfügung stehende Landfläche zu vergrößern. Unter Bezugnahme auf Reglement, Abschnitt 13, § 24(a), ersuchen wir mit allem Respekt darum, daß ein Schiffsrat einberufen wird, um diesen Antrag baldmöglichst zu diskutieren.
„Nun, Kapitän Malina? Botschafter Kaldor? Haben Sie dazu etwas zu bemerken?“
Die beiden Gäste in der geräumigen, aber einfach möblierten Kapitänskajüte blickten sich gleichzeitig an. Dann nickte Kaldor dem Vizekapitän fast unmerklich zu und bestätigte, daß er auf sein Rederecht verzichtete, indem er noch einen langsamen, bewußten Schluck von dem ausgezeichneten thalassanischen Wein nahm, mit dem ihre Gastgeber sie versorgt hatten.
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