„Nimm die Brille und die Handschuhe ab“, sagte Salvator. Gehorsam befreite sich das Wesen von den Utensilien. Christo erblickte einen schlanken schönen Jüngling.
„Macht euch bekannt: Ichtiander, Fischmensch, oder besser Amphibienmensch, auch Meerteufel genannt.“ So stellte Salvator den Jüngling vor.
Freundlich lächelnd reichte dieser dem Indianer die Hand und sagte auf Spanisch „Guten Tag“.
Christo drückte schweigend die ihm dargebotene Rechte, Vor Verblüffung konnte er kein Wort sprechen.
„Ichtianders Diener, der Neger, ist erkrankt“, fuhr Salvator fort. „Ich lasse dich einige Tage hier bei Ichtiander. Wenn du mit deinen neuen Pflichten gut zurechtkommst, könntest du Ichtianders ständiger Diener werden.“
Christo nickte schweigend.
Es war kurz vor Anbruch des Tages, noch tief dunkel.
Die Luft, warm und feucht, ging schwanger mit dem betäubenden Duft zahlloser Blüten. Kein Blättchen regte sich. Ringsum Stille. Unter leichten Tritten knirschte leise der Sand. Ichtiander spazierte über den Gartenweg. An seinem Gürtel hingen Dolch, Brille und die Schwimmflossen, schwangen bei jedem Schritt rhythmisch hin und her.
Der Weg war kaum erkennbar. Bäume und Sträucher bildeten schwarze, formlose Flecke. Von den Wasserbecken stiegen Nebelschwaden. Manchmal streifte Ichtiander einen Zweig. Der Tau benetzte seine Haare und heißen Wangen.
Der Weg bog scharf nach rechts ab und führte nun abwärts. Die Luft wurde feuchter und frischer, Als Ichtiander Steinplatten unter den Füßen fühlte, verlangsamte er seinen Gang und blieb schließlich stehen. Ohne Eile setzte er seine große Brille mit den dicken Gläsern auf und zog die Schwimmflossen über Füße und Hände. Er stieß kräftig die Luft aus der Lunge und tauchte mit einem geschmeidigen Sprung tief in das Bassin. Angenehm frisch umspülte das Wasser seinen Körper und drang kühl durch seine Kiemen. Die Kiemenspalten begannen sich rhythmisch zu bewegen — der Mensch hatte sich in einen Fisch verwandelt. Ichtiander benötigte nur ein paar kräftige Armbewegungen, um den Boden des Bassins zu erreichen.
Vollkommen sicher schwamm der Jüngling durch das Dunkel. Er ertastete einen in die Bassinwand eingelassenen eisernen Ring, dann den zweiten, den dritten, und gelangte so zu dem wassergefüllten Tunnel. Zuerst schwamm Ichtiander am Grunde, bis er die eindringende kalte Gegenströmung überwunden hatte. Dann stieß er sich vom Boden ab und schwamm aufwärts mit dem Gefühl, als würde er in eine Badewanne eintauchen. Der Oberlauf der Wasserbecken im Garten mündete in diesen Tunnel, so daß sonnenwarmes Wasser in den oberen Schichten des Tunnels zum offenen Meer strömte.
Ichtiander legte sich auf den Rücken, kreuzte die Arme vor der Brust und ließ sich, Kopf voran, treiben.
Bald war das Ende des Tunnels erreicht. Kurz vor dem Ausfluß ins Meer strömte aus einer Felsspalte unter starkem Druck eine heiße Quelle hervor. In ihren Strudeln tanzten Kieselsteinchen und kleine Muscheln.
Der Jüngling drehte sich wieder auf den Bauch. Es war noch immer zu dunkel, um etwas zu erkennen. Tastend streckte er die Hände aus und berührte Eisengitter, dessen Stäbe weich und glitschig waren durch Algenwuchs und rauh durch abgelagerte Muscheln.
An das Gitter geklammert, fand der Jüngling den Sperriegel. Die schwere runde Gittertür, die den Ausgang des Tunnels versperrte, öffnete sich langsam. Ichtiander schlüpfte durch den Spalt, die Tür schlug hinter ihm wieder zu. Mit kräftigen Kraulstößen schwamm er dem offenen Meer zu.
Im Wasser war es noch immer dunkel. Hin und wieder leuchtete in den Tiefen der matte, bläuliche Schimmer leuchtender Wassertierchen oder trübroter Medusen. Doch in der aufsteigenden Dämmerung verblaßten rasch die Leuchtfarben der kleinen Lebewesen.
Der Amphibienmensch umschwamm ein Felsenriff und spürte ein stechendes Brennen in seinen Kiemen, wie von unzähligen Nadelstichen. Auch das Atmen fiel ihm schwerer. Hinter diesem Riff war das Wasser stets stark verschmutzt durch Tonerdeteilchen, aufgewirbelten Sand und vielerlei Abfälle. Eine nahegelegene Flußmündung verdünnte das Seewasser hier so stark, daß es fast ganz entsalzt war.
Es ist erstaunlich, daß Flußfische in trübem, salzlosem Wasser leben können, überlegte Ichtiander. Wahrscheinlich sind ihre Kiemen gegen Schmutz- und Sandteilchen nicht so empfindlich.
Er reckte sich hoch, wendete nach rechts, nach Süden, und tauchte steil in größere Tiefen. Hier war das Wasser reiner. Ichtiander geriet in eine kalte Unterwasserströmung des Parano-Flusses, die entlang der Küste von Süden nach Norden bis zur Küste floß und ihn weit hinaus in den offenen Ozean trug.
Der Amphibienmensch beschloß, ein wenig zu ruhen. Er liebte es, in der Zeit vor Sonnenaufgang zu schlummern. Es war ganz ungefährlich, denn die Raubtiere des Meeres schliefen noch. Seine Haut empfand wohlig die wechselnde Temperatur der verschiedenen Strömungen.
Plötzlich drang ein dumpfes, polterndes Geräusch in Ichtianders Bewußtsein. Es wiederholte sich mehrmals: das Rasseln der Ankerketten. Die Fischkutter in der einige Kilometer entfernten Bucht lichteten die Anker.
Ein kaum wahrnehmbares fernes Rollen erkannte er als das stampfende Maschinengeräusch eines großen Überseedampfers. Es war die „Horrox“, die zwischen Buenos Aires und Liverpool verkehrte, Der Morgen graute. Nun war keine Zeit mehr zum Träumen. Das Nahen des Ozeanriesen wurde deutlicher. Die Meeresbewohner erwachten. Wohl als erste regten sich die Delphine. Ihr Auftauchen verursachte eine leichte Unruhe, die Ichtiander warnte. Die Delphine schienen dem Schiff entgegenzuschwimmen.
Das Rasseln der Ankerketten und das Tuckern der Motoren kam jetzt von verschiedenen Seiten. Der Hafen erwachte. Ichtiander öffnete die Augen, schüttelte den Schlaf ab, dehnte die Arme und stieg mit einigen Beinschlägen zur Oberfläche empor.
Vorsichtig hob er den Kopf aus dem Wasser und blickte um sich. In der Nähe waren weder Boote noch Schoner. Langsam wassertretend reckte er sich bis zum Gürtel aus dem Wasser.
Kormorane und Möwen kreisten niedrig, manchmal streiften sie im Tiefflug mit der Brust oder einer Flügelspitze die spiegelglatte Oberfläche. Mit rauschendem Flügelschlag flog ein riesiger Albatros über Ichtianders Kopf. Der schneeweiße Sturmvogel hatte schwarze Schwingen, einen roten Schnabel mit gelber Spitze und orangegelbe Beine. Der Amphibienmensch blickte dem prachtvollen Vogel, der zur Bucht flog, bewundernd nach. Ein wenig neidisch dachte er: Solche Flügel müßte ich haben.
Während im Westen die fernen Berge noch im Dunkeln lagen, erhellte sich der Himmel im Osten. Eine leichte Dünung kam auf die golden schimmernden Streifen. Die Möwen flogen höher, das Morgenrot färbte ihr Gefieder rosa.
Auf der matten Wasserfläche kündigten dunkelblaue Streifen die ersten Windstöße an.
Der sandige Strand wurde schon von den gelblich-weißen Schaumzungen der Brandung bespült. An den Ufern wurde das Wasser grün.
Die Fischerboote waren ausgelaufen und kamen näher. Ichtiander, dem der Vater streng verboten hatte, sich vor Menschen zu zeigen, tauchte rasch in die Tiefe. Er fand eine kalte Strömung und ließ sich vom Ufer weg nach Osten treiben, dem offenen Meer entgegen. Um ihn herum war die blauviolette Dunkelheit der Meerestiefe. Hellgrüne Fische mit dunklen Streifen und Flecken huschten vorbei. Ganze Schwärme, rot, gelb und braun spielten im Wasser wie bunte, flatternde Schmetterlinge.
Himmelwärts wurde ein lautes Dröhnen vernehmbar. Ein schwarzer Schatten huschte über das Wasser.
Ichtiander erkannte das Wasserflugzeug. Einmal war eine solche Maschine in seiner Nähe aufgesetzt. Er hatte sich unbemerkt an einen der Schwimmer angeklammert und wäre beinahe ums Leben gekommen, als das Flugzeug losraste und sich in die Lüfte erhob. Nur durch einen gewagten Sprung aus zehn Meter Höhe hatte sich der Amphibienmensch retten können.
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