Ich stellte mich vor das Ikonoskop. Es gefiel mir nicht, aber was sollte ich tun? Ich glaubte, ein Geräusch zu hören, war mir dessen aber nicht sicher. Ich war noch nie in der tausend Fuß unter mir liegenden Fahrstuhlzentrale gewesen, in der die Knöpfe betätigt wurden, die die Kabinen in den verzahnten Schächten hinauf- und hinunterjagten, aber ich hätte ein Jahresgehalt dafür gegeben, jetzt hineinschauen zu können.
Eine halbe Minute wartete ich. Dann sagte die Stimme unverbindlich. »Gut, gehen Sie zurück in die Kabine. Fünfundvierzigstes Stockwerk, erste Tür links.«
Die übrigen Leute in der Kabine starrten mich durch einen Schleier von Coffiest-Alkaloid an, bis ich ausstieg. Ich betrat das Laufband, das nach links führt, ging an der Tür mit der Aufschrift ›Postraum‹ vorbei bis zur Abzweigung, wo das Laufband aufhört. Es dauerte eine Weile, bis ich die Treppe gefunden hatte, aber das war nicht weiter schlimm. Ich brauchte Zeit, um meine Flüche loszuwerden. Ich wagte nicht, noch einmal einen Fahrstuhl zu betreten.
Sind Sie schon einmal vierunddreißig Stockwerke gestiegen?
Als ich fast oben war, fiel mir das Steigen schwer. Mein Körper schmerzte vom Zeh bis zum Nabel und ich verschwendete meine ohnehin knappe Zeit. Außerdem war es schon fast zehn Uhr, so daß die Verbraucher, die hier auf den Treppen übernachteten, allmählich eintrafen. Ich war so vorsichtig wie möglich, aber im vierundsiebzigsten Stockwerk kam es beinahe zu einem Handgemenge, weil der Mann auf der dritten Stufe längere Beine hatte als ich dachte.
Oberhalb des achtundsiebzigsten Stockwerks waren glücklicherweise keine Schläfer mehr; ich befand mich im Verwaltungsgebiet.
Ich schlich durch die Gänge und wußte sehr genau, daß die erste Person, der ich auffiele, mich entweder erkennen oder hinauswerfen würde. Es befanden sich nur Angestellte auf den Fluren, und keinen von ihnen kannte ich näher; das Glück war offenbar auf meiner Seite.
Aber nicht mehr lange. Fowler Schockens Büro war verschlossen.
Ich glitt ins Büro seiner Sekretärin, das verlassen dalag, und überlegte. Nach der Arbeit war Fowler gewöhnlich im Club und spielte ein wenig Golf. Es war zwar schon ziemlich spät, aber ich wollte es riskieren – bis zum Club waren es nur noch vier Stockwerke.
Ich überstand die Strapaze. Der Club ist geschmackvoll eingerichtet, und das ist nur recht und billig, denn der Beitrag ist nicht gerade niedrig. Außer dem Golfplatz, dem Tennisplatz und den anderen Sportanlagen besteht der gesamte Nordteil des Raumes aus Wald – es gibt mehr als ein Dutzend herrlich nachgebildete Bäume – und mindestens zwanzig Erholungskabinen zum Lesen , Fernsehen und zu anderen unterhaltsamen Dingen.
Eine gemischte Vierergruppe spielte Golf. Ich näherte mich ihnen so unaufällig wie möglich. Sie waren intensiv mit ihren Skalen und Knöpfen beschäftigt, von denen sie gerade zum zwölften Loch dirigiert wurden. Mit sinkendem Mut las ich die Punkte an der Tafel; sie lagen alle hoch in den neunzigern. Idioten. Fowler Schockens Durchschnitt lag unter achtzig. In einer solchen Gruppe konnte er unmöglich mitspielen, und als ich näherkam stellte ich fest, daß ich die beiden Männer der Gruppe nicht kannte.
Ich zögerte, bevor ich mich zurückzog, und versuchte mich zu entscheiden, was als nächstes zu tun sein. Schocken war weit und breit nicht zu entdecken. Vielleicht saß er in einer der Erholungskabinen, doch ich konnte unmöglich alle Türen öffnen, um nachschauen; man würde mich sofort hinausgeworfen haben, wenn ich eine besetzte Kabine betreten hatte; es sei denn, das Glück wäre mir hold und Fowler hätte drinnen gesessen.
Die Unterhaltung der Golfspieler erregte meine Aufmerksamkeit. Eines der beiden Mädchen hatte gerade mit einem vorsichtigen Schlag den Ball ins Loch befördert; sie lächelte glücklich, als die anderen ihr gratulierten und beugte sich vor, um den Hebel zu bedienen, der die mechanischen Spieler bewegte; ich erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht. Es war Hester, meine Sekretärin.
Nun war alles einfach. Ich konnte mir zwar nicht so recht vorstellen, wie Hester in den Club gekommen war; aber ich wußte alles andere, was man über Hester wissen mußte. Ich zog mich in eine Nische in der Nähe der Eingangstür zur Damentoilette zurück; es dauerte nur zehn Minuten bis sie erschien.
Sie fiel natürlich in Ohnmacht. Ich fluchte, trug sie in die Nische, wo sich eine Couch befand und legte sie dort nieder. Dann schloß ich die Tür.
Sie blinzelte, als sie wieder zu sich kam. »Mitch«, sagte sie in einem Ton, der zwischen Flüstern und Schreien lag. »Ich bin nicht tot«, sagte ich. »Jemand anders ist gestorben, und man hat die Leichen vertauscht. Ich weiß nicht, wer ›man‹ ist, aber ich jedenfalls bin nicht tot. Ja, ich bin’s wirklich. Mitch Courtenay, Ihr Chef. Ich kann es beweisen. Erinnern Sie sich zum Beispiel an die Weihnachtsfeier im vergangenen Jahr, als Sie sich so große Sorgen machten…«
»O ja«, sagte sie hastig. »Mein Gott, Mitch – ich meine Mr. Courtenay…«
»Mitch genügt«, sagte ich. Ich ließ die Hand los, die ich massiert hatte, und sie richtete sich auf, um mich besser sehen zu können. »Hören Sie zu«, sagte ich. »Ich lebe, aber ich stecke in einem verzwickten Schlamassel. Ich muß mich mit Fowler Schocken in Verbindung setzen. Können Sie das bewerkstelligen – auf der Stelle?«
»Hm«, sie schluckte und griff nach einer Zigarette. Automatisch nahm ich mir eine Starr. »Nein, Mitch, geht nicht. Mr. Schocken ist auf dem Mond. Es ist ein großes Geheimnis, aber ich glaube, Ihnen kann ich es ruhig verraten. Es hängt mit dem Venusprojekt zusammen. Nachdem Sie gestorben waren – na ja, Sie wissen, was ich meine –, danach jedenfalls beschloß er, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich habe ihm Ihre ganzen Notizen gegeben. Eine bezog sich auf den Mond, glaube ich; na ja, vor ein paar Tagen ist er jedenfalls abgeflogen.«
»Verdammt«, sagte ich. »Wer vertritt ihn denn hier? Harvey Bruner? Können Sie ihn erreichen?«
Hester schüttelte den Kopf. »Nein; nicht Mr. Bruner, Mitch. Mr. Runstead vertritt ihn. Mr. Schocken ist so überstürzt abgereist, daß niemand außer Mr. Runstead seinen Posten übernehmen konnte. Aber ich kann ihn sofort erreichen.«
»Nein«, sagte ich, blickte auf die Uhr und stöhnte. Ich konnte es gerade noch rechtzeitig bis zum Museum schaffen. »Hören Sie«, sagte ich. »Ich muß wieder fort. Sagen Sie keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen, verstanden? Ich denke mir etwas aus und rufe Sie wieder an. Wie machen wir alles am besten – sagen Sie, wie war noch der Name des Arztes Ihrer Mutter? – ja, ich melde mich dann als Dr. Gallant. Und ich verabrede einen Termin mit Ihnen und sage Ihnen dann alles weitere. Ich kann doch auf Sie zählen, Hester?«
»Gewiß, Mitch«, sagte sie atemlos.
»Fein«, erwiderte ich. »Jetzt müssen Sie mich im Fahrstuhl hinunterbringen. Ich habe keine Zeit zum Treppensteigen, und es gibt Schwierigkeiten, wenn jemand wie ich auf dem Korridor zum Club erwischt wird.« Ich schwieg und schaute sie an. »Dabei fällt mir ein«, sagte ich, »was um alles in der Welt tun Sie eigentlich hier?«
Hester errötete. »Na, Sie wissen doch, wie das ist«, sagte sie unglücklich. »Als Sie fort waren, war kein anderer Posten für eine Sekretärin frei; die übrigen Abteilungsleiter hatten ihre Mädchen, und ich konnte ja nicht einfach wieder Verbraucher werden, Mitch, nicht mit all den Rechnungen und so weiter. Und – nun, da ergab sich eben diese Möglichkeit…«
»Ach so«, sagte ich. Ich hoffte, daß mein Gesichtsausdruck nicht verriet, was ich dachte; jedenfalls gab ich mir große Mühe.
»Keine Angst, Hester«, sagte ich freundlich. »Ich stehe in Ihrer Schuld. Und verlassen Sie sich darauf, Sie werden mich nicht daran erinnern müssen. Ich bringe alles in Ordnung.« Und ich wußte auch schon genau, wie. Vielen der Mädchen, die unter ZZ-Vertrag stehen, gelingt es, die automatische Umbesetzung und Degradierung zu umgehen. Es würde für mich verdammt schwer werden, sie vor Ablauf des Jahres vom Vertrag zu lösen, das käme also nicht in Frage; aber einige Mädchen hatten nach ihrem ersten Jahr bei einzelnen Abteilungsleitern ein ganz gutes Leben. Und meine Position war so bedeutend, daß es kaum einer wagen würde, einen Hinweis von mir zu ignorieren oder sie gar schlecht zu behandeln.
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