Zudem gab diese Entwicklung den Behörden die Möglichkeit, neben der Verwanzungsaktion auch noch eine klitzekleine (und natürlich illegale) Durchsuchung zu starten, was die Geheimagenten vom Rauschgiftdezernat sowieso immer gerne taten, wenn es keine Zeugen dafür gab. Es schien ihnen ein innerer Reichsparteitag zu sein, Schreibtischschubladen herauszuziehen, um nachzuschauen, was wohl an der Rückseite festgeklebt war; Stehlampen auseinanderzunehmen, um festzustellen, ob nicht vielleicht Hunderte von Tabletten heraussprangen; tief in Toilettenschüsseln hinabzutauchen, um zu überprüfen, was da für kleine, in Klopapier eingewickelte Päckchen befestigt sein mochten, außer Sichtweite und dort, wo sie beim Abziehen von den rauschenden Wasserfluten automatisch weggespült werden würden; und schließlich sogar in das Gefrierfach des Kühlschranks zu schauen, um zu kontrollieren, ob nicht irgendeins der Päckchen mit tiefgefrorenen Erbsen und Bohnen in Wirklichkeit tiefgefrorenes Dope enthielt, das natürlich schlau mit einem falschen Etikett getarnt war. Und in der Zwischenzeit wurden die komplizierten Holo-Kameras installiert. Die Beamten setzten und stellten sich dazu an verschiedene Plätze, um die Kameras durchzutesten. Die gleiche Prozedur wurde dann noch einmal für die Audioeinheiten wiederholt. Aber der Video-Teil war wichtiger und nahm mehr Zeit in Anspruch. Und natürlich durften die Holo-Kameras von keiner Stelle aus sichtbar sein. Es verlangte schon ein beachtliches handwerkliches Können, sie so anzubringen. Eine ganze Reihe von Plätzen mußten durchprobiert werden. Die Techniker, die die Geräte einbauten, wurden gut bezahlt, denn wenn sie Mist bauten und die Bewohner des Hauses später auch nur eine der Holo-Kameras entdecken, würden sie sofort wissen, daß man bei ihnen eingebrochen hatte, und sie nun unter ständiger Beobachtung standen – und dann würden sie bei allen ihren zukünftigen Aktivitäten vorsichtiger sein. Und außerdem würden sie vielleicht das ganze Holo-System herausreißen und verhökern.
Es hatte sich als schwierig für die Gerichte erwiesen, dachte Bob Arctor, als er über den San Diego Freeway nach Süden fuhr, Leute für den Diebstahl und den Verkauf elektronischer Apparaturen schuldig zu sprechen, die illegal in deren Häusern installiert worden waren. Die Polizei konnte dann nur versuchen, die Angeklagten unter dem Vorwand anderer Vergehen doch noch reinzureißen. Seltsam, dachte Arctor, eigentlich reagieren auch Pusher in einer entsprechenden Situation ganz ähnlich, nur eben noch etwas konsequenter. Er erinnerte sich an einen Fall, bei dem ein Heroindealer einer Puppe eins reinwürgen wollte und darum zwei Päckchen mit Heroin im Griff ihres Bügeleisens versteckt hatte. Anschließend hatte er der Polizei anonym einen telefonischen Tip gegeben, aber bevor die Bullen darauf hatten reagieren können, hatte die Puppe das Heroin zufällig gefunden. Aber statt es durchs Klo zu spülen, hatte sie es verkauft. Die Polizei kreuzte bei ihr auf, fand aber nichts, machte dann einen Stimmabdruck von dem anonymen Anrufer und verhaftete den Pusher, weil er den Behörden falsche Informationen gegeben hatte. Als der Pusher auf Kaution wieder freigelassen wurde, besuchte er mitten in der Nacht die Puppe und schlug sie fast tot. Als er geschnappt wurde und man ihn fragte, warum er dem Mädchen ein Auge ausgeschlagen und ihr beide Arme und mehrere Rippen gebrochen habe, erklärte er, daß die Puppe auf zwei Päckchen mit hochgradigem Heroin gestoßen sei, die ihm gehörten, sie dann mit einem guten Schnitt verkauft und ihn nicht am Profit beteiligt habe. Das, dachte Arctor, ist halt die Pusher-Mentalität.
Er lud Luckman und Barris in San Diego ab, wo sie alleine versuchen sollten, das Cephskop zu organisieren. Dadurch saßen sie erst einmal fest, was sie nicht nur daran hinderte, zum Haus zurückzukehren, während die Verwanzungsaktion in vollem Gange war, sondern es Arctor zudem auch möglich machte, mal wieder bei einem Mädchen vorbeizuschauen, das auf der Liste jener Personen stand, die er observieren sollte und das er seit über einem Monat nicht mehr gesehen hatte. Er kam selten in diese Gegend, und die Puppe schien sowieso nicht viel mehr zu tun als zwei- oder dreimal am Tag Meth zu schießen und gelegentlich ein paar Freier abzuschleppen, um so das Geld für ihren Stoff zusammenzubringen. Sie wohnte mit ihrem Dealer zusammen, der – was ja auf der Hand lag – auch ihr Zuhälter war. Gewöhnlich war Dan Mancher tagsüber weg, und das war günstig für Arctor. Der Dealer war zugleich auch selber süchtig, aber Arctor hatte bisher nicht herausfinden können, nach welchem Stoff. Offensichtlich nach einer ganzen Reihe von Drogen. Um welchen Stoff es sich auch immer handeln mochte – er hatte Dan seltsam und bösartig werden lassen. Außerdem unberechenbar und gewalttätig. Es war ein Wunder, daß die örtliche Polizei ihn nicht längst wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eingebuchtet hatte. Vielleicht waren die Beamten bestochen. Oder, was am wahrscheinlichsten war, sie kümmerten sich einfach nicht mehr darum; dieses merkwürdige Pärchen lebte in einem Slumviertel, in dem sonst nur Rentner und andere arme Leute hausten. Die Polizisten betraten den Cromwell-Village-Distrikt mit seinen heruntergekommenen Häusern, den Müllkippen, Parkplätzen und Straßen, die wie Schuttabladeplätze wirkten, wohl nur dann, wenn es sich absolut nicht mehr vermeiden ließ – also etwa bei Kapitalverbrechen.
Auf der ganzen Welt schien es nichts zu geben, was mehr Schmutz und menschliches Elend produzierte als solche endlosen Straßenzüge mit ihren grauen, tristen Mietskasernen, die eigentlich gebaut worden waren, um die Leute aus dem Schmutz und dem Elend herauszuholen. Arctor stellte seinen Wagen ab, fand den richtigen, nach Urin stinkenden Treppenaufgang, stieg hinauf in die Dunkelheit und entdeckte schließlich die Tür von Apartment 4, die mit einem G gekennzeichnet war. Eine volle Dose Drano lag vor der Tür, und er hob sie automatisch auf, wobei er sich fragte, wie viele Kinder hier wohl spielen mochten. Einen Augenblick lang erinnerte er sich an seine eigenen Kinder und daran, was er über die Jahre hinweg alles unternommen hatte, um sie vor Gefahren zu schützen. Dazu hätte auch gehört, eine solche Dose aufzuheben. Er hämmerte mit der Dose gegen die Tür.
Sofort rasselte das Türschloß, und die mit einer Vorlegekette gesicherte Tür öffnete sich einen Spalt weit. Das Mädchen, Kimberly Hawkins, spähte heraus. »Ja?«
»Hallo«, sagte er. »Ich bin’s, Bob.«
»Was hast du da in der Hand?«
»Eine Dose Drano«, sagte er.
»Scherzkeks.« Sie löste apathisch die Kette; auch ihre Stimme klang apathisch. Kimberly war down, das konnte er sehen – sehr down. Außerdem hatte sie ein blaues Auge und eine gespaltene Lippe. Und als Arctor sich umblickte, sah er, daß die Fenster des kleinen, total verdreckten Apartments zersplittert waren. Glasscherben lagen auf dem Boden, vermischt mit umgekippten Aschenbechern und Coke-Flaschen.
»Bist du allein?« fragte er.
»Yeah. Dan und ich hatten einen Streit, und dann ist er abgehauen.« Das Mädchen – ein Chicano-Halbblut, klein und nicht besonders hübsch, mit der gelblichen Gesichtsfarbe der Schnee-Freaks – starrte blicklos zu Boden, und Arctor bemerkte ein Raspeln in ihrer Stimme, wenn sie sprach. Manche Drogen bewirkten das, aber es konnte auch von einer schweren Kehlkopfentzündung herrühren. Da die Fenster kaputt waren, ließ sich das Apartment nicht mehr richtig beheizen.
»Er hat dich zusammengeschlagen.« Arctor stellte die Dose mit Drano auf ein Regal neben einige Porno-Taschenbücher; die meisten davon waren uralt und vom vielen Lesen zerfleddert.
»Tja, er hatte sein Messer nicht dabei, Gott sei Dank. Sein Schnappmesser, das er jetzt immer in einer Scheide am Gürtel trägt.« Kimberly ließ sich in einen schweren Plüschsessel fallen, aus dem die Sprungfedern ragten. »Was willst du, Bob? Ich bin im Arsch, wirklich.«
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