Jetzt lachte sie und legte ihre vernarbten Hände auf meine Arme. »Mein lieber Freund«, sagte sie, »Sie haben die Weiten des Raums und der Zeit bereist — sie haben viele Male die Geschichte verändert; Sie sind ohne jeden Zweifel ein Genie —, aber Sie haben das neunzehnte Jahrhundert nie verlassen.«
Ich war verlegen. »Wie meinen Sie das?«
»Denken Sie darüber nach.« Sie fuhr mit der Hand über ihre versengte Kopfhaut, an der noch ein paar Büschel ergrauten Haares hafteten. »Wir sind dreizehn — ohne Ihren Freund Nebogipfel. Und diese Dreizehn besteht aus acht Frauen und fünf Männern.« Sie musterte mich spöttisch »Das ist die Lage. Es gibt keine Insel hinter dem Horizont, von der noch mehr junge Männer kommen und unsere Mädchen wegheiraten könnten…
Wenn wir alle stabile Ehen eingingen — wenn wir eine Monogamie etablieren würden, wie Sie vorschlagen —, würde unsere kleine Gesellschaft bald auseinanderfallen. Weil nämlich, wie Sie sehen, acht und fünf nicht hinkommen. Und deshalb glaube ich, daß eine gewisse Lockerheit unserer Arrangements angemessen wäre. Zum Besten aller. Meinen Sie nicht auch? Und außerdem ist es auch gut für die ›genetische Diversifikation‹, von der uns Nebogipfel immer erzählt.«
Ich war schockiert; nicht (glaubte ich wenigstens) wegen des moralischen Aspekts, sondern wegen der zugrundeliegenden Kalkulation!
Irritiert wollte ich sie verlassen — und dann fiel mir etwas ein. »Aber — Hilary — ich bin doch auch einer von den fünfen, von denen Sie gesprochen haben.«
»Natürlich.« Plötzlich wurde mir klar, daß sie sich lustig über mich machte.
»Aber ich habe keine — ich meine, ich habe keine…«
Sie grinste. »Dann wird es vielleicht Zeit, daß Sie hätten. Sie komplizieren die Dinge nur, wissen Sie!«
Verwirrt ging ich. Offensichtlich hatte sich die Gesellschaft zwischen 1891 und 1944 auf eine Weise verändert, die ich mir nie hätte träumen lassen!
Die Errichtung der großen Halle machte gute Fortschritte, und ein paar Monate nach dem Bombenangriff stand der Rohbau. Hilary Bond verkündete, daß anläßlich seiner Fertigstellung ein Gottesdienst stattfinden würde. Nebogipfel sträubte sich zunächst — mit der für einen Morlock charakteristischen Überanalyse konnte er keinen Sinn in einem solchen Akt erkennen — aber ich überzeugte ihn davon, daß in Anbetracht der zukünftigen Beziehungen zwischen den Kolonisten eine Beteiligung klug wäre.
Ich wusch und rasierte mich und machte mich so fein, wie das nur möglich war, wenn eine zerrissene Hose das einzige Kleidungsstück darstellte. Nebogipfel kämmte sich und stutzte seine flachsblonde Mähne. Angesichts der Besonderheiten unserer Situation liefen viele Kolonisten jetzt fast nackt herum, wobei die Blöße mit nur wenig mehr als Streifen aus Tuch oder Fell bedeckt wurde. An diesem Tag jedoch legten sie die Überreste ihrer so gut wie möglich gesäuberten und geflickten Uniformen an, und obwohl es eine Parade war, die vor keinem Feldwebel Gnade gefunden hätte, waren wir in der Lage, uns mit einer Haltung und Disziplin zu präsentieren, die ich zumindest bewegend fand.
Wir stiegen über eine niedrige, schiefe Treppe in das dunkle Innere der Halle. Der Boden — wenngleich auch uneben — war fest und gefegt, und das morgendliche Sonnenlicht stach durch die unverglasten Fenster. Ich verspürte sogar Ehrfurcht: trotz der rustikalen Architektur und Konstruktion verströmte dieser Ort eine Aura der Solidität, die Absicht zu bleiben.
Hilary Bond stand auf einem aus dem Kraftstoffbehälter des Fahrzeugs improvisierten Podest und stützte sich mit einer Hand auf Stubbins' breite Schulter. Ihr zerstörtes, von bizarren Haarbüscheln gekröntes Gesicht strahlte eine schlichte Würde aus.
Unsere neue Kolonie, verkündete sie, war nun gegründet und konnte einen Namen erhalten: sie schlug vor, sie Alt-London zu nennen. Dann forderte sie uns auf, sich ihr zu einem Gebet anzuschließen. Zusammen mit den anderen senkte ich den Kopf und faltete die Hände. Ich war in einem streng anglikanischen Haus erzogen worden, und Hilarys Worte weckten nun nostalgische Erinnerungen in mir und versetzten mich in eine weniger komplizierte Zeit meines Lebens zurück, eine Zeit voller Gewißheit und Sicherheit.
Und als Hilary in einfachen und prägnanten Worten weitersprach, gab ich meine analytischen Versuche auf und ließ mich einfach von dieser schlichten Gemeindefeier mittragen.
Die ersten Früchte der neuen Verbindungen erblickten noch im selben Jahr unter Nebogipfels Mitwirkung das Licht der Welt.
Nebogipfel untersuchte unseren neuen Kolonisten gründlich — wie ich hörte, hatte die Mutter größte Bedenken, dem Morlock ihr Baby anzuvertrauen, und legte Einspruch ein; aber Hilary Bond zerstreute ihre Befürchtungen — und schließlich verkündete Nebogipfel, daß es sich bei dem Baby um ein kerngesundes Mädchen handelte, und gab es seinen Eltern zurück.
Ziemlich schnell — so kam es mir jedenfalls vor — füllte sich die Siedlung mit Kindern. Es war ein alltäglicher Anblick, daß Stubbins seinen kleinen Jungen zur offensichtlichen Freude des kleinen Kerls auf den Schultern reiten ließ; und ich wußte, daß es nicht lange dauern würde, bis Stubbins den kleinen Burschen am Strand mit Kokosnüssen würde Fußball spielen sehen.
Die Kinder waren den Kolonisten ein Quell großer Freude. Vor den ersten Geburten hatten einige Kolonisten vor lauter Heimweh und Einsamkeit schwere depressive Anfälle erlitten. Nun aber mußte man sich um die Kinder kümmern: Kinder, deren einzige Heimat Alt-London sein würde und deren zukünftiges Wohlergehen ein Ziel — das wichtigste Ziel überhaupt — für ihre Eltern darstellte.
Was mich betraf, so hatte ich beim Anblick der weichen und glatten Gliedmaßen der Kinder, die im narbigen Fleisch ihrer selbst noch jungen Eltern gewiegt wurden, den Eindruck, als ob die Schatten dieses grausamen Krieges schließlich von ihnen wichen — ein Schatten, der vom strahlenden Licht des Paläozäns verdrängt wurde.
Dennoch untersuchte Nebogipfel nach wie vor jedes Neugeborene.
Dann kam der Tag, an dem er einer Mutter ihr Kind nicht wiedergeben konnte. Diese Geburt verwandelte sich in einen Anlaß zu privater Trauer, aus dem wir anderen uns heraushielten; und danach verschwand Nebogipfel im Wald und ging für lange Tage seinen geheimen Verrichtungen nach.
Nebogipfel verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit der Leitung von sogenannten ›Studiengruppen‹. Diese waren für alle Kolonisten zugänglich, obwohl in der Praxis dann jedesmal immer nur drei oder vier Zuhörer erschienen, je nach Interesse und sonstigen Verpflichtungen. Nebogipfel referierte über praktische Aspekte des Lebens im Paläozän, z.B. über die Herstellung von Kerzen und Stoffen aus den natürlichen Ressourcen; er entwickelte sogar eine Art Seife, eine zähe, körnige Paste aus Soda und Tierfett. Aber er ließ sich auch über andere Themen aus: Medizin, Physik, Mathematik, Chemie, Biologie, die Prinzipien der Zeitreise…
Ich nahm an einer Reihe dieser Sitzungen teil. Trotz der unheimlich klingenden Stimme und der eigentümlichen Art war die Präsentation des Morlocks immer bewundernswert verständlich, und er hatte eine Vorliebe, das Verständnis seines Auditoriums mit Fragen zu testen. Während ich ihm so zuhörte, wurde mir bewußt, daß sich die Dozenten der britischen Durchschnittsuniversität eine Scheibe oder zwei von ihm hätten abschneiden können!
Was die Vorlesungsinhalte betraf, so orientierte er sich strikt an der Sprache seiner Zuhörer — am Vokabular, wenn nicht gar am Jargon von 1944 — und er gab ihnen einen Überblick über die in den darauffolgenden Jahrzehnten erfolgten Entwicklungen auf jedem Gebiet. Wo es möglich war, betrieb er Anschauungsunterricht mit Metall- und Holzstücken oder zeichnete mit Stöcken Diagramme in den Sand; er ließ seine ›Studenten‹ jedes Stück Papier, das wir hatten retten können, mit seinem Wissen beschriften.
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