Ich stolperte zurück, so geschockt, als ob man mir einen Fausthieb versetzt hätte.
Nebogipfel schien meine Reaktion irgendwie vorausgesehen zu haben, denn er sagte: »Du mußt daran denken, daß du eine halbe Million Jahre in der Zeit versetzt bist: der Abstand zwischen uns ist zehnmal so groß wie das Alter deiner Spezies…«
»Nebogipfel — kann das denn wahr sein? Daß euer Nachwuchs — ihr selbst — aus diesem Boden gezogen werdet, hergestellt mit der gleichen Profanität wie eine Teetasse?« Die Morlocks hatten in der Tat ›ihr genetisches Erbe bewältigt‹ dachte ich — denn sie hatten die Geschlechter aufgehoben und die Geburten abgeschafft.
Auch die Toten — so erfuhr ich später — wurden von der Sphäre entsorgt, wobei die Leichen zwecks Zerlegung und Wiederverwendung ihres Materials vom Boden absorbiert wurden, ohne daß ihnen im feierlichen Rahmen die letzte Ehre erwiesen worden wäre.
»Nebogipfel«, sagte ich schaudernd, »das ist — unmenschlich.«
Er neigte den Kopf; offensichtlich bedeutete ihm das Wort nichts. »Unsere Politik gilt der Optimierung des Potentials der menschlichen Gestalt — denn wir sind auch menschlich«, beteuerte er. »Diese Gestalt wird von einer Sequenz aus einer Million Genen definiert, und deshalb ist die Anzahl der potentiellen menschlichen Individuen — wenn auch groß — endlich. Und all diese Individuen können…« — er zögerte — »…von der Intelligenz der Sphäre projiziert werden. Die Sphäre synthetisiert die Materialien, die benötigt werden, um das selektierte Individuum zum Leben zu erwecken, und…«
›»Selektiert‹?« Ich wandte mich dem Morlock zu, und der Zorn und die Gewalttätigkeit, die ich so lange aus meinen Gedanken verdrängt hatte, fluteten in meine Seele zurück. »Wirklich sehr rational. Aber was hast du sonst noch alles wegrationalisiert, Morlock? Was ist mit Zärtlichkeit? Was mit Liebe?«
Entscheidung und Abschied
Ich taumelte aus dieser schrecklichen Gebärhütte und schaute mich in der großen Stadt-Kammer um, mit ihren Kohorten geduldiger Morlocks, die ihren unverständlichen Verrichtungen nachgingen. Ich hätte sie anbrüllen, die Fäuste in ihr weiches Fleisch stoßen und ihre selbstgefällige Perfektion zerschlagen mögen; aber selbst in diesem dunklen Moment wußte ich, daß ich es mir nicht leisten konnte, ihnen ein noch schlechteres Bild von mir zu vermitteln.
Am liebsten wäre ich sogar vor Nebogipfel geflohen. Ich wußte wohl, daß er mir Höflichkeit und Verständnis entgegengebracht hatte: vielleicht mehr, als ich eigentlich verdient hatte, und vielleicht auch mehr, als meine Zeitgenossen einem wütenden Wilden des Jahres 500000 v. Chr. zugestanden hätten. Aber dennoch hatte ich den Eindruck, daß ihn meine Reaktion auf den Gebärvorgang fasziniert und amüsiert hatte. Vielleicht hatte er ja auch nur eine Show arrangiert, um ebendiese extreme Reaktion bei mir zu provozieren! Nun, wenn das seine Absicht gewesen sein sollte, hatte Nebogipfel wohl Erfolg gehabt. Aber jetzt waren meine Erniedrigung und der diffuse Zorn so groß, daß ich den Anblick seiner würdevoll frisierten Gestalt kaum ertragen konnte.
Aber wohin hätte ich denn gehen sollen? Ob es mir nun gefiel oder nicht, Nebogipfel war mein einziger Bezugspunkt in dieser fremden Welt der Morlocks: das einzige lebende Individuum, dessen Namen ich kannte, und — nach allem, was ich bisher wußte — mein einziger Beschützer.
Vielleicht spürte Nebogipfel diesen Konflikt in mir. Auf jeden Fall drängte er mir nicht seine Gesellschaft auf; vielmehr wandte er mir den Rücken zu und ließ wieder die kleine Schlafhütte aus dem Boden wachsen. Ich kletterte hinein und hockte mich in die dunkelste Ecke, wobei ich die Arme um den Körper schlang — ich verkroch mich wie ein wildes Tier, das man nach New York gebracht hatte!
Dort blieb ich für einige Stunden — vielleicht schlief ich sogar ein. Schließlich spürte ich, wie sich wieder etwas Zuversicht einstellte, und ich aß eine Kleinigkeit und machte eine Katzenwäsche.
Ich glaube, daß — jedenfalls vor dem Zwischenfall auf der Gebärfarm — die Einblicke in diese Welt der Morlocks mich in ihren Bann zogen. Ich habe mich immer als einen rationalen Menschen verstanden, und ich war fasziniert von dieser Vision, wie eine Welt Rationaler Wesen ihre Belange regeln konnte — wie Naturwissenschaften und Maschinenbau zur Erschaffung einer besseren Welt beitragen konnten. Es hatte mich beeindruckt, welche Toleranz sie z. B. für unterschiedliche Meinungen zu Politik und Regierungsform aufbrachten. Aber der Anblick dieses halbfertigen Homunkulus hatte mir den Rest gegeben. Vielleicht demonstriert meine Reaktion auch nur, wie tief die grundsätzlichen Werte und Instinkte unserer Spezies verwurzelt sind.
Wenn es denn stimmte, daß die Morlocks ihr genetisches Erbe bezwungen hatten, den Makel der Urmeere, dann beneidete ich sie in diesem Moment um ihren Gleichmut!
Ich wußte, daß ich mich von der Gesellschaft der Morlocks lösen mußte — ich wurde zwar geduldet, aber es gab hier genauso wenig Platz für mich wie für einen Gorilla im Mayfair Hotel — und ich begann eine neue Entschlossenheit zu entwickeln.
Ich kam aus meiner Hütte hervorgekrochen. Nebogipfel stand da und wartete, als ob er immer in ihrer Nähe gewesen wäre. Er wischte mit einer Hand über eine Konsole und veranlaßte, daß die leere Hütte wieder vom Boden aufgesogen wurde.
»Nebogipfel«, sagte ich energisch, »dir muß doch klar sein, daß ich hier so fehl am Platze bin wie ein Zootier, das in die Stadt ausgebrochen ist.«
Er antwortete nicht; sein Blick wirkte unbeteiligt.
»Wenn es nicht in eurer Absicht liegt, mich als Gefangenen zu halten oder als Probe in einem Laboratorium zu betrachten, dann verspüre ich nicht das Verlangen, hier zu bleiben. Ich wünsche, daß ihr mir Zugang zu meiner Zeitmaschine gewährt, damit ich in meine eigene Zeit zurückkehren kann.«
»Du bist kein Gefangener«, sagte er. »Für dieses Wort gibt es in unserer Sprache keine Entsprechung. Du bist ein denkendes und fühlendes Wesen, und als solches hast du Rechte. Die einzige Auflage für dich besteht darin, daß du mit deinen Aktionen niemandem mehr Schaden zufügen sollst…«
»Was ich akzeptiere«, meinte ich steif.
»…und«, fuhr er fort, »daß du nicht mit deiner Zeitmaschine abreist.«
»Soviel also zu meinen Rechten«, knurrte ich ihn an. »Ich bin hier ein Gefangener — und ein Gefangener in der Zeit!«
»Obwohl die Theorie der Zeitreise klar genug ist — und die mechanische Struktur deiner Maschine ist auch kein Geheimnis — fehlt uns bisher noch jedes Verständnis der zugrundeliegenden Prinzipien«, sagte der Morlock. Ich interpretierte das so, daß sie noch nicht hinter die Wirkungsweise des Plattnerits gekommen waren. »Aber«, fuhr Nebogipfel fort, »wir sind der Ansicht, daß diese Technologie von großem Nutzen für unsere Spezies sein könnte.«
»Da bin ich mir sicher!« Ich hatte eine plötzliche Vision von diesen Morlocks, wie sie mit ihren magischen Geräten und Wunderwaffen auf modifizierten Zeitmaschinen über das London von 1891 hereinbrachen. Wie würden die Menschen meines Jahrhunderts wohl auf eine solche Invasion affenartiger Untermenschen aus der Zukunft reagieren?
Die Antwort auf diese Frage war mir nur zu bekannt: mit Gewalt und Abscheu. Es würde ein Krieg ausbrechen, wie die Welt ihn noch nicht gesehen hatte — und mit einem unausweichlichen Sieg der Morlocks enden.
Und dann, unterworfen und gezähmt, würden Männer, Frauen und Kinder in großen Reservationen eingeschlossen werden, ihrer Maschinen und Waffen beraubt — ihrer Macht beraubt, Entscheidungen zu treffen —, während die Morlocks mit der langsamen Transformation der Erde in eine Welt der Dunkelheit begannen.
Читать дальше