Als ich endlich eine Stationsschwester erwischte, erfuhr ich, dass Essie noch an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen war, aber jeden Augenblick von ihr getrennt werden konnte. Es war eine Frage der Auswahl. Die Maschinen mochten bessere Verwendung finden bei anderen Patienten, die viel günstigere Aussichten hatten.
Ich schäme mich zuzugeben, wie rasch Begriffe von Gerechtigkeit sich verflüchtigten, wenn es um die eigene Frau ging, die an den Maschinen hing. Ich suchte ein leeres Arztzimmer auf, warf den Versicherungsregulierer hinaus, der sich den Schreibtisch ausgeborgt hatte, und hängte mich an die Leitungen. Ich sprach mit zwei Senatoren gleichzeitig, bevor Harriet mit einem Bericht unseres Medizinprogramms dazwischenging. Essies Puls hatte zu schlagen begonnen. Man hielt ihre Chancen jetzt immerhin für groß genug, dass man ihr die zusätzliche Gelegenheit, noch eine Weile an den Maschinen zu bleiben, zugestehen wollte.
Medizinischer Vollschutz war natürlich von Nutzen. Aber im Wartesaal draußen waren alle Plätze von Leuten besetzt, die auf ihre Behandlung warteten, und ich konnte an den Halsbändern erkennen, dass manche von ihnen ebenfalls medizinischen Vollschutz genossen.
Ich durfte nicht zu ihr. Auf der Intensivstation waren Besuche nicht zugelassen, und das galt sogar für mich; an der Tür stand ein Polizist aus Tucson, der sich nach einem langen, harten Tag zwang, wach zu bleiben. Er war entsprechend gelaunt. Ich spielte am Schreibtischgerät des abwesenden Arztes herum, bis ich eine interne Leitung fand, durch die man die Intensivstation überwachte. Ich konnte aber nicht sehen, wie gut sich Essie hielt. Ich konnte nicht einmal genau erkennen, welche der Mumien sie eigentlich war. Aber ich starrte sie an. Harriet rief von Zeit zu Zeit an, um kleine Nachrichten weiterzugeben. Mit guten und sorgenvollen Wünschen gab sie sich gar nicht ab; davon gab es viele, aber Essie hatte mir ein Robinette-Broadhead-Programm für den Umgang mit derlei Dingen geschrieben, und Harriet lieferte Anrufern ein Bild und ein besorgtes Lächeln, dazu ein Dankeschön, ohne sich die Mühe zu machen, mich zuzuschalten. Essie hatte solche Programmierungen sehr gut beherrscht.
Vergangenheit. Als ich bemerkte, dass ich an eine Essie in der Vergangenheitsform dachte, fühlte ich mich erst richtig mies.
Nach einer Stunde fand mich eine Frau vom Küchenpersonal und gab mir Brühe und Kekse, und etwas später verbrachte ich fünfundvierzig Minuten in einer Schlange vor der öffentlichen Herrentoilette; das war praktisch die ganze Ablenkung, die ich in der dritten Etage der Klinik hatte, bis endlich eine Mexikanerin den Kopf zur Tür hereinsteckte und sagte: »Señor Broad’ead? Por favor.« Der Polizist stand immer noch vor dem Eingang der Intensivstation und fächelte sich mit seinem verschwitzten Stetson Luft zu, um wach zu bleiben, aber als die Mexikanerin mich am Arm hineinführte, erhob er keine Einwände.
Essie lag unter einer Druckblase. Über ihrem Gesicht gab es eine durchsichtige Stelle, sodass ich aus ihrer Nase einen Schlauch ragen sah, während ein Verband die linke Gesichtshälfte verdeckte. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr schmutziggoldenes Haar hatte man in ein Netz verpackt. Sie war nicht bei Bewusstsein.
Zwei Minuten waren alles, was sie erlaubten, und das reichte für gar nichts. Nicht einmal dafür, sich vorzustellen, was all die klumpigen, gewölbten Gegenstände unter dem durchsichtigen Teil der Kugel zu bedeuten hatten. Ganz und gar nicht genug war es, damit Essie sich aufrichten und mit mir sprechen oder ein anderes Gesicht aufsetzen konnte.
Draußen im Flur gab mir der Arzt eine Minute. Er war ein kleiner alter Farbiger mit dickem Bauch, der blaue Kontaktlinsen trug, und blickte auf einen Zettel, um festzustellen, mit wem er sprach.
»Ah ja, Mr. Blackett«, sagte er. »Ihre Frau hat die beste Pflege, sie spricht auf die Behandlung an, es besteht eine Chance, dass sie gegen Abend zu sich kommen wird.«
Ich machte mir gar nicht die Mühe, ihn wegen des Namens zu korrigieren, und stellte die drei wichtigsten Fragen: »Wird sie Schmerzen haben? Was ist mit ihr geschehen? Braucht sie irgendetwas? … Ich meine, was es auch ist.«
Er seufzte und rieb sich die Augen. Offenkundig trug er die Kontaktlinsen schon zu lange.
»Mit Schmerzen werden wir fertig, und sie hat ja medizinischen Vollschutz. Wie man hört, sind Sie ein einflussreicher Mann, Mr. Blackett. Aber es gibt nichts, was Sie tun können. Vielleicht braucht sie morgen oder übermorgen etwas. Heute nicht. Ihre ganze linke Seite ist zerquetscht worden, als der Bus auf sie fiel. Sie war in dieser Lage sechs oder sieben Stunden eingeklemmt, bis jemand sie herausholen konnte.«
Ich wusste nicht, dass ich einen Laut von mir gegeben hatte, aber der Arzt hörte etwas. Durch die Kontaktlinsen kam ein wenig Mitgefühl, als er zu mir aufsah.
»Das war eigentlich zu ihrem Vorteil, wissen Sie. Vermutlich hat ihr dies das Leben gerettet. Es wirkte sich aus, als hätte sie Druckverbände bekommen, sonst wäre sie verblutet.« Seine Lider zuckten ein paarmal, während er auf seinen Zettel blickte. »Hm. Sie wird, mal sehen, ein neues Hüftgelenk brauchen. Ersatz für zwei Rippen. Zwanzig, vierzig, achtzig – vielleicht hundert Quadratzentimeter neue Haut, und die linke Niere ist massiv geschädigt. Ich glaube, da wird eine Verpflanzung nötig sein.«
»Wenn es irgendetwas gibt …«
»Überhaupt nicht, Mr. Blackett«, sagte er und faltete das Blatt Papier zusammen. »Im Augenblick nichts. Gehen Sie, bitte. Kommen Sie um sechs Uhr wieder, wenn Sie wollen, dann können Sie vielleicht kurz mit ihr sprechen. Aber im Augenblick brauchen wir den Platz, den Sie besetzen.«
Harriet hatte bereits veranlasst, dass das Hotel Essies Sachen aus ihrem Zimmer hatte holen und in eine Penthouse-Suite bringen lassen; sie hatte sogar Waschzeug und Sachen zum Umziehen bestellt und liefern lassen. Dort vergrub ich mich. Ich wollte nicht aus dem Zimmer gehen. Es machte mir keinen Spaß, die fröhlichen Zecher in der Hotelbar zu sehen oder die Straßen voll von Menschen, die das Fieber unbeschadet überstanden hatten und einander mitteilen wollten, wie knapp es für sie abgegangen war.
Ich zwang mich zum Essen. Dann zwang ich mich zum Schlafen. So viel gelang mir, aber natürlich nicht, länger zu schlafen. Ich nahm ein heißes Sprudelbad und ließ Musik dazu spielen; es war ein sehr schönes Hotel. Aber als man von Strawinsky auf Carl Orff kam, zwang mich der lustige, sinnliche lateinische Text, an die letzte Gelegenheit zu denken, bei der ich mit meiner lebensfrohen, sinnlichen und jetzt ernsthaft gefährdeten Frau gespielt hatte.
»Abschalten«, zischte ich, und die stets wachsame Harriet ließ die Stimmen mitten im Gesang verstummen.
»Nehmen Sie Mitteilungen an, Robin?«, fragte sie aus demselben Lautsprecher.
Ich trocknete mich sorgfältig ab und sagte dann: »Gleich nachher. Warum nicht?« Abgetrocknet, gebürstet, in frischen Sachen setzte ich mich vor das Kommunikationssystem des Hotels. Man war nicht so gut ausgestattet, dass man den Gästen eine vollständige Holodarstellung hätte bieten können, aber Harriet wirkte vertraut genug, als sie aus einem Flachschirm blickte. Sie beruhigte mich, was Essie anging. Sie überwachte ständig alles, und alles verlief ganz gut – natürlich im Rahmen. Aber es stand nicht schlecht. Essies eigene Ärztin aus Fleisch und Blut war unterrichtet, und Harriet übermittelte eine aufgezeichnete Mitteilung von ihr: Ich solle mir keine Sorgen machen. Oder genauer: Machen Sie sich nicht solche Sorgen, wie Sie glauben, sich machen zu müssen.
Harriet hatte eine Reihe von Mitteilungen für mich, die eine Entscheidung verlangten. Ich genehmigte eine weitere halbe Million Dollar für die Brandbekämpfung in den Nahrungsgruben, wies Morton an, für unseren Mann in Brasilia einen Termin bei der Gateway-Gesellschaft zu vereinbaren, teilte meinem Makler mit, was er verkaufen sollte, damit ich ein wenig flüssiger war, um gegen bisher unbekannte Fieberschäden gesichert zu sein. Dann ließ ich die interessantesten Programme berichten und schloss mit Alberts neuester Zusammenfassung über die Nahrungsfabrik. Ich tat das alles mit großer Klarheit und Übersicht, wohlgemerkt. Ich ging davon aus, dass Essies Überlebensaussichten die ganze Zeit über merklich zunahmen, sodass ich keine Energie für seelischen Kummer aufzubringen brauchte. Und ich hatte mir bewusst nicht genau vor Augen geführt, wie viele Klumpen Fleisch und Knochen aus dem wunderschönen Körper meiner geliebten Frau gerissen worden waren. Das ersparte mir alle möglichen Anstrengungen für Gefühle, die ich nicht näher kennen lernen wollte.
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