Sofort, als sie sich durch den goldenen Gang entfernt hatten – rasch, hin, zupacken! Wan hatte drei Bücher und war fort, in einem roten Korridor wieder in Sicherheit. Es war möglich, dass die Alten ihn gesehen hatten. Sie reagierten nicht schnell. Deshalb hatte er sie so lange meiden können. Ein paar Tage in den Gängen, und schon war er wieder fort. Bis sie dahinter kamen, dass er da gewesen war, war er bereits wieder auf dem Schiff.
Er brachte die Bücher in einem Tragekorb voll Nahrungspäckchen zum Schiff zurück. Die Antriebs-Akkus waren fast ganz aufgeladen. Er konnte davonfliegen, wann er wollte, aber es war besser, sie noch vollständig aufzuladen, und er glaubte nicht daran, dass er sich beeilen musste. Er brachte fast eine Stunde damit zu, für die mühsame Reise Plastikbeutel mit Wasser zu füllen. Wie bedauerlich, dass es im Schiff keine Lesegeräte gab, um die Langeweile zu vertreiben! Als ihm die Arbeit zu viel wurde, beschloss er, den Toten Menschen Lebewohl zu sagen. Sie mochten antworten oder auch nicht, ja, sich nicht einmal um ihn kümmern. Aber sonst hatte er niemanden, mit dem er sprechen konnte.
Wan war fünfzehn Jahre alt, groß gewachsen, mager, von Natur schon dunkelhäutig, dunkler noch durch die Lampen auf dem Schiff, wo er so viel Zeit verbrachte. Er war kräftig und selbständig. Er musste es sein. In den Behältern lag immer Nahrung, und es gab andere Dinge, die er nur zu nehmen brauchte, wenn er es wagte. Ein- oder zweimal im Jahr, wenn sie daran dachten, packten die Toten Menschen ihn mit ihrer kleinen beweglichen Maschine und brachten ihn in eine Zelle in den blauen Gängen, einen langweiligen Tag lang, in dessen Verlauf er sehr gründlich untersucht wurde. Manchmal bekam er eine Zahnfüllung, gewöhnlich erhielt er lang wirkende Vitamin- und Mineralienspritzen, und einmal hatte er eine Brille zugeteilt bekommen. Aber er weigerte sich, sie zu tragen. Sie erinnerten ihn auch daran, dass er – wenn er das zu lange vernachlässigte – studieren und lernen musste, sowohl von ihnen wie aus den Büchern. Er brauchte nicht oft daran erinnert zu werden. Das Lernen machte ihm Spaß. Abgesehen von diesen Dingen blieb er sich völlig selbst überlassen. Wenn er Kleidung brauchte, ging er in den goldenen Bereich und stahl sie den Alten. Wenn er sich langweilte, erfand er eine neue Beschäftigung. Ein paar Tage in den Gängen, ein paar Wochen im Schiff, noch ein paar Tage an dem anderen Ort, dann fing er wieder von vorne an. Die Zeit verging. Er hatte keine Gesellschaft und auch keine gehabt, seitdem er vier Jahre alt gewesen war und seine Eltern verschwunden waren. Er hatte auch beinahe vergessen, wie es war, einen Freund zu haben. Es störte ihn nicht. Sein Leben erschien ihm durchaus vollständig, weil er kein anderes kannte, mit dem er es hätte vergleichen können.
Manchmal dachte er, dass es schön wäre, sich an irgendeinem Ort niederzulassen, aber das waren nur Träume. Bis zu einem Vorsatz gedieh das nie. Seit mehr als elf Jahren ging es nun schon hin und her. An dem anderen Ort gab es Dinge, die in der Zivilisation nicht vorhanden waren. Es gab das Traumzimmer, wo er sich hinlegen, die Augen schließen und das Gefühl haben konnte, nicht allein zu sein. Aber dort konnte er nicht leben, obwohl es viel Nahrung und keine Gefahren gab, weil der einzige Wassersammler nur ein Rinnsal produzierte. Die Zivilisation besaß vieles von dem, was es im Vorposten nicht gab: die Toten Menschen und die Bücher, unheimliche Erkundungsgänge und wagemutige Vorstöße, um Kleidung oder Gebrauchsgegenstände zu stehlen; es tat sich etwas. Aber dort konnte er auch nicht leben, weil die Froschgesichter ihn früher oder später bestimmt erwischen würden. Deshalb pendelte er.
Die große Vestibültür zum Raum der Toten Menschen öffnete sich nicht, als Wan auf das Pedal trat. Er schlug sich beinahe die Nase an. Überrascht blieb er stehen und drückte erst vorsichtig gegen die Tür, dann fester. Er brauchte seine ganze Kraft, um sie aufzustoßen. Wan hatte sie noch nie von Hand öffnen müssen, auch wenn sie ab und zu gezögert und beunruhigende Geräusche von sich gegeben hatte. Das war ärgerlich. Wan hatte schon früher Maschinen erlebt, die versagten; das war auch der Grund, weshalb die grünen Korridore nicht mehr sehr nutzbringend waren. Aber das betraf nur Nahrung und Wärme, und davon gab es genug in den roten oder sogar den goldenen Korridoren. Es war unangenehm, dass bei den Toten Menschen Defekte auftraten, denn wenn sie versagen sollten, gab es für ihn keinen Ersatz.
Trotzdem sah alles normal aus; der Raum mit den Konsolen war von Leuchtstoffplatten hell beleuchtet, die Temperatur war angenehm, und er konnte das leise Summen und seltene Klicken der Toten Menschen hinter ihren Schalttafeln hören, wenn sie ihren einsamen, wahnhaften Gedanken nachhingen und taten, was sie eben machten, wenn er nicht mit ihnen sprach. Er setzte sich in seinen Sessel, rutschte wie immer umher, um sich in den schlecht passenden Sitz zu schmiegen, und zog den Kopfhörer über seine Ohren.
»Ich gehe jetzt zum Vorposten«, sagte er.
Es kam keine Antwort. Er wiederholte den Satz in allen Sprachen, die er beherrschte, aber niemand schien mit ihm reden zu wollen. Das war eine Enttäuschung. Manchmal waren zwei oder drei von ihnen auf Gesellschaft begierig, vielleicht sogar mehr. Dann konnten sie alle eine schöne lange Unterhaltung führen, und es war beinahe so, als sei er in Wirklichkeit gar nicht ganz allein, beinahe so, als gehöre er zu einer »Familie« (ein Wort, das er aus den Büchern und den Mitteilungen der Toten Menschen kannte, als Wirklichkeit aber kaum noch in Erinnerung hatte). Das war gut. Fast so gut wie am Traumort, wo er eine Weile die Illusion genießen konnte, zu hundert, zu Millionen Familien zu gehören. Zu Scharen von Leuten! Aber das hielt er nicht lange aus. Wenn er den Vorposten verlassen musste, um Wasser zu holen und die weniger greifbare Gesellschaft der Toten Menschen zu genießen, bedauerte er das nie. Doch er wollte immer wieder zurück zu der engen Liege und der seidig-metallenen Decke, die ihn dort schützte, und zu den Träumen.
Doch er beschloss, den Toten Menschen noch eine Chance zu geben. Selbst wenn sie sich nicht unterhalten wollten, konnte man ihr Interesse manchmal erregen, sobald man sie direkt ansprach. Er dachte kurz nach, dann wählte er die Nummer 57.
Eine traurige, ferne Stimme murmelte vor sich hin: »… versuchte ihm das mit der fehlenden Masse zu erklären. Masse! Die einzige Masse, die ihn beschäftigte, waren zwanzig Kilo Titten und Arsch! Dieses Dämchen Doris! Ein Blick auf sie, und er hat den Auftrag vergessen, mich vergessen …«
Stirnrunzelnd hob Wan den Finger, um abzuschalten. Siebenundfünfzig war eine Plage! Er hörte ihr gern zu, wenn sie vernünftig sprach, weil sie ein wenig so klang, wie er seine Mutter in Erinnerung hatte, aber sie schien von Astrophysik, Raumfahrt und anderen interessanten Themen jedes Mal direkt auf ihre eigenen Sorgen zu kommen. Er spuckte auf die Stelle an den Schalttafeln, hinter der seiner Meinung nach Siebenundfünfzig lebte – etwas, das er von den Alten gelernt hatte –, in der Hoffnung, sie werde etwas Interessantes von sich geben.
Aber sie schien nicht daran zu denken. Nummer Siebenundfünfzig – wenn sie verständlich redete, ließ sie sich gern Henriette nennen – plapperte weiter von starken Rotverschiebungen und Arnolds Tändeleien mit Doris. Was immer das sein mochte.
»Wir hätten Helden sein können«, sagte sie schluchzend, »und zehn Millionen Dollar Prämie einsacken können, vielleicht noch mehr, wer weiß, was sie für den Antrieb bezahlt hätten? Aber sie verschwanden dauernd mit der Landekapsel und … Wer bist du?«
»Ich bin Wan«, sagte der Junge und lächelte aufmunternd, obwohl er nicht glaubte, dass sie ihn sehen konnte. Sie erweckte den Eindruck, vor einem lichten Moment zu stehen. In der Regel wusste sie nicht, dass er mit ihr sprach. »Bitte, sprich weiter.«
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