»Gratuliere«, sagte ich. »Ich hätte gedacht, das Letzte, was die Menschheit braucht, sind neue Methoden, sich gegenseitig umzubringen, aber … herzlichen Glückwunsch.« Ich brauchte einen Anflug moralischer Überlegenheit, denn als ich mich umdrehte, schwebte Shicky vor mir und beobachtete mich.
»Wollen sie?«, sagte ich und hielt ihm das Gras hin.
Er schüttelte den Kopf.
»Shicky, es hing nicht von mir ab. Ich habe gesagt … ich habe nicht gesagt, man soll Sie nicht nehmen.«
»Haben Sie gesagt, sie sollen es tun?«
»Es hing nicht von mir ab. He, hören Sie!«, sagte ich plötzlich. »Jetzt, nach Louises Erfolg, wird Sess gar nicht fliegen wollen. Warum übernehmen Sie nicht seinen Platz?«
Er wich zurück und beobachtete mich; nur sein Ausdruck hatte sich verändert.
»Sie wissen es nicht?«, sagte er. »Richtig, Sess ist ausgestiegen, aber er hat schon Ersatz gefunden.«
»Wen?«
»Die Person direkt hinter Ihnen«, sagte Shicky, und ich drehte mich um, und da war sie, sah mich an, ein Glas in der Hand und einen Ausdruck im Gesicht, den ich nicht ergründen konnte.
»Hallo, Bob«, sagte Klara.
Ich hatte mich in der Kantine mit ein paar Gläsern auf die Party vorbereitet; ich war zu neunzig Prozent betrunken und zu zehn Prozent high, aber das flutschte alles hinaus, als ich sie ansah. Ich stellte das Glas weg, gab irgendjemandem den Joint, nahm sie beim Arm und zog sie hinaus in den Tunnel.
»Klara«, sagte ich. »Hast du meine Briefe bekommen?«
Sie sah mich verwirrt an.
»Briefe?« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast sie wohl zur Venus geschickt? Ich bin gar nicht dort gewesen. Wir trafen uns mit dem Ekliptikflug, und ich stieg um und kam zurück.«
»Oh, Klara.«
»Oh, Bob«, äffte sie mich grinsend nach; das war nicht sehr spaßig, denn wenn sie lächelte, konnte ich sehen, welchen Zahn ich ihr ausgeschlagen hatte. »Was haben wir einander sonst zu sagen?«
Ich legte die Arme um sie.
»Ich kann sagen, dass ich dich liebe und es mir Leid tut, und ich will es wieder gutmachen, ich möchte heiraten und mit dir zusammenleben und Kinder haben und …«
»Mensch, Bob«, sagte sie und schob mich weg, aber sanft, »wenn du etwas sagst, dann gleich eine ganze Menge, wie? Aber das hat alles Zeit.«
»Aber es sind Monate gewesen!«
Sie lachte.
»Ganz im Ernst, Bob. Das ist ein schlechter Tag für Schützen, sich zu entscheiden, vor allem in der Liebe. Wir reden ein andermal darüber.«
FLUGBERICHT
Fahrzeug 3-184, Flug 019D140. Besatzung S. Kotsis, A. McCarthy,
K. Metsuoko.
Transitzeit hinaus 615 Tage, 9 Stunden. Kein Bericht der Besatzung vom Ziel. Abtasterergebnisse für Ortsbestimmung unzureichend. Keine erkennbaren Merkmale.
Keine Zusammenfassung
Auszug aus Logbuch: ›Das ist der 281. Tag des Hinflugs. Metsuoko verlor die Auslosung und beging Selbstmord. Alicia brachte sich vierzig Tage später freiwillig um. Wir haben den Wendepunkt noch nicht erreicht, sodass alles umsonst war. Die restlichen Rationen reichen nicht für mich, selbst wenn man Alicia und Kenny einbezieht, die intakt im Gefrierschrank liegen. Ich stelle deshalb alles auf Vollautomatik und nehme die Pillen. Wir haben alle Briefe hinterlassen. Bitte, an die Adressen weiterleiten, wenn dieses gottverdammte Schiff jemals zurückkommt.‹
Die Flugleitung gab eine Stellungnahme ab, wonach ein Fünfer mit doppelten Rationen und Einpersonen-Besatzung fähig sein könnte, diese Mission zu Ende zu führen und lebend zurückzukehren. Vorschlag wegen geringer Dringlichkeit zu den Akten gelegt: kein erkennbarer Vorteil durch Wiederholung dieser Mission.
»Dieser Quatsch! Ich glaube kein Wort davon!«
»Aber ich, Bob.«
Ich hatte eine Eingebung.
»He! Ich wette, ich kann im ersten Schiff mit jemandem tauschen! Oder, warte mal, vielleicht tauscht Susie einfach mit dir …«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass Susie das möchte. Es hat schon Ärger genug gegeben, weil Sess mit mir getauscht hat. In der letzten Minute stellt man keinesfalls mehr um.«
»Das ist mir egal, Klara!«
»Bob«, sagte sie, »dräng mich nicht. Ich habe viel nachgedacht über uns beide. Ich glaube, wir haben etwas, wofür ein Einsatz sich lohnen könnte. Doch ich kann nicht behaupten, dass mir schon alles klar wäre, und ich will nichts überstürzen.«
»Aber, Klara …«
»Belass es dabei, Bob. Ich fliege im ersten Schiff, du im zweiten. Dort können wir uns unterhalten. Vielleicht sogar für den Rückflug tauschen. Aber inzwischen haben wir Gelegenheit, in Ruhe über das nachzudenken, was wir wirklich wollen.« Sie küsste mich und schob mich weg. »Bob«, sagte sie, »nicht so eilig. Wir haben Zeit genug.«

»Sag mal, Sigfrid«, frage ich, »wie nervös bin ich?«
Er trägt diesmal sein Sigmund-Freud-Hologramm, durchdringender Wiener Blick, keine Spur von gemütlich. Aber seine Stimme ist der alte, sanfte Bariton: »Wenn du fragst, was meine Sensoren zeigen, Bob, du bist ziemlich erregt, ja.«
»Das dachte ich mir«, antworte ich und werfe mich auf der Matte herum.
»Kannst du mir sagen, weshalb?«
»Nein!« Die ganze Woche war so, herrlicher Sex mit Doreen und S. Ya. und unter der Dusche eine Tränenflut; enormes Geschick beim Bridgeturnier und völlige Verzweiflung auf dem Heimweg. Ich komme mir vor wie ein Jo-Jo. »Ich komme mir vor wie ein Jo-Jo!«, brülle ich. »Du hast etwas aufgerissen, mit dem ich nicht fertig werde!«
»Ich glaube, du unterschätzt deine Fähigkeiten.«
»Was weißt du schon davon, was Menschen können?«
Er seufzt beinahe. »Sind wir schon wieder dabei, Bob? Gewiss, ich bin eine Maschine, aber dazu erfunden zu begreifen, wie die Menschen sind; und ich erfülle meine Funktion gut, Bob.«
»Aber du bist kein Mensch! Du fühlst nicht! Du hast keine Ahnung, was es heißt, als Mensch Entscheidungen zu treffen und die Last menschlicher Gefühle zu tragen. Du weißt nicht, was es heißt, einen Freund fesseln zu müssen, damit er keinen Mord begeht. Zu erleben, wie jemand stirbt, den man liebt. Zu wissen, dass es deine Schuld ist. Vor Angst den Verstand zu verlieren.«
»Ich kenne diese Dinge, Bob, wirklich«, sagt er leise. »Ich möchte erkunden, warum du so durcheinander bist, aber ich brauche deine Hilfe.«
»Hör auf!« Ich weiß, dass ich ihn von dort wegdrängen muss, wo es wehtut. Ich habe S. Ya.’s kleine Formel bislang nicht mehr verwendet, aber jetzt tue ich es und verwandle ihn vom Tiger in ein Kätzchen. Der Rest der Sitzung wird als Peep-Show verlaufen, und ich bin noch einmal intakt davongekommen.
Oder beinahe.

Wir sangen und jubelten die ganzen neunzehn Tage nach dem Wendepunkt. Ich glaube nicht, dass ich mich in meinem ganzen Leben schon einmal so wohl gefühlt habe. Zum Teil war es die Erlösung von der Angst; nach dem Wendepunkt atmeten wir auf, wie immer. Aber der erste Teil des Fluges war auch ziemlich strapaziös gewesen; Metschnikow und seine zwei Freunde lagen ständig in Streit, und Susie Hereira war an Bord viel weniger an mir interessiert als auf Gateway. Aber für mich lag es vor allem daran, dass ich Klara immer näher kam. Danny A. half mir beim Ausrechnen, und ich glaubte ihm, dass wir insgesamt an die dreihundert Lichtjahre zurücklegten. Das erste Schiff, in dem Klara sich befand, war dreißig Sekunden vor uns gestartet und war uns bis zum Wendepunkt immer weiter vorausgeeilt. Es war reine Arithmetik: ungefähr ein Lichttag. 3 x 10 10Zentimeter pro Sekunde mal 60 Sekunden mal 60 Minuten mal 24 Stunden … beim Wendepunkt war Klara gute siebzehneinhalb Milliarden Kilometer vor uns. Das schien sehr weit zu sein und war es auch, aber nach dem Wendepunkt rückten wir dem ersten Schiff immer näher, und ich konnte beinahe spüren, dass wir aufholten. Manchmal bildete ich mir ein, ihr Parfüm riechen zu können.
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