Das fand ich heraus, als wir an einer Reihe von Zellen vorbeikamen, bei denen die Türen offen standen. Davor hockten gelangweilt bewaffnete MPs auf den Gängen und passten auf, dass die Insassen drin blieben. Der Leutnant blieb stehen, um mit dem Wachoffizier zu sprechen. Während wir warteten, flüsterte Essie: »Wenn er die Terroristen nicht erwischt hat, warum ist der General dann so freundlich zu dir?«
»Gute Frage«, antwortete ich. »Hier ist eine für dich: Was hat er damit gemeint, dass Dolly eine so beliebte junge Dame ist?«
Der Leutnant war empört, dass wir es wagten, ohne Aufforderung zu sprechen. Er brach die Unterhaltung mit dem Kollegen ab und trieb uns weiter. Dann blieb er vor einer Zelle stehen, bei der wie bei den anderen auch die Tür offen stand. Er deutete hinein. »Da ist die Gefangene«, sagte er. »Sie können sich mit ihr unterhalten, so lange Sie wollen; aber sie weiß nicht viel.«
»Das ist mir klar«, sagte ich. »Denn andernfalls würden Sie uns sicher nicht zu ihr lassen, oder?« Dafür bekam ich wieder einen von Essies heißen Blicken zu spüren. Sie hatte Recht. Wenn ich den Leutnant nicht so dumm angeredet hätte, wäre er vielleicht anständig genug gewesen, etwas zurückzutreten, damit wir allein mit Dolly Walthers sprechen konnten. So aber postierte er sich ungeniert im Türrahmen.
Vielleicht auch nicht. Ich stimme für die zweite Annahme.
Dolly Walthers war eine Frau mit kindlicher Figur, kindlich hoher Stimme und schlechten Zähnen. Sie war nicht in bester Verfassung. Sie war verängstigt, erschöpft, wütend und verstockt.
Mir ging es nicht viel besser. Ich war vollkommen durcheinander und aufgewühlt von dem Bewusstsein, dass diese junge Frau vor mir einige Wochen in Gesellschaft der Liebe meines Lebens – oder einer der Lieben meines Lebens – verbracht hatte. Ich sage das so leichthin. Aber es war ganz und gar nicht leicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte.
»Sag ›Hallo‹, Robin!«, belehrte mich Essie.
»Mrs. Walthers«, brachte ich gehorsam hervor. »Hallo. Ich bin Robin Broadhead.«
Sie hatte noch Manieren. Wie ein gutes Kind streckte sie mir die Hand entgegen. »Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Broadhead. Außerdem habe ich ja Ihre Frau neulich getroffen.« Höflich schüttelten wir uns die Hände. Sie lächelte sogar ganz flüchtig. Erst viel später, als ich ihre Robinette-Broadhead-Handpuppe sah, wusste ich, warum sie gelächelt hatte. Sie schien aber auch verwundert zu sein. »Ich dachte, dass mich vier Leute sehen wollten. Das hat man mir angekündigt«, meinte sie und suchte mit den Augen den Gang hinter dem sturen Leutnant ab.
»Nur wir beide«, sagte Essie und wartete darauf, dass ich mich dazu äußerte.
Aber ich brachte kein Wort heraus. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, was ich fragen sollte. Vielleicht hätte ich es fertig gebracht, Dolly Walthers zu erklären, was Klara mir bedeutet hatte, und sie um Hilfe zu bitten – jede Art von Hilfe, wenn Essie allein dabei gewesen wäre. Oder wäre es nur der Leutnant gewesen, dann hätte ich ihn wie ein Möbelstück übersehen können. Jedenfalls bildete ich mir ein, es gekonnt zu haben. Aber sie waren beide anwesend, und ich stand still und stumm da, während Dolly Walthers mich neugierig und Essie erwartungsvoll anschauten. Selbst der Leutnant drehte sich um und starrte mich an.
Essie seufzte. Es klang verzweifelt und mitfühlend. Dann fällte sie ihre Entscheidung. Sie nahm die Sache in die Hand und sprach Dolly Walthers an. »Dolly«, sagte sie lebhaft, »Sie müssen meinen Mann entschuldigen. Es ist für ihn ein traumatisches Erlebnis. Die Gründe sind so kompliziert, dass ich sie Ihnen jetzt nicht erklären kann. Sie müssen mir auch verzeihen, dass ich nicht verhindert habe, dass die MPs Sie verhaftet haben. Ich habe ebenfalls ein Trauma, aus Gründen, die mit denen meines Mannes zusammenhängen. Wichtig ist, was wir jetzt machen! Ich schlage Folgendes vor: Zuerst erwirken wir Ihre Freilassung von hier. Dann laden wir Sie ein, uns zu begleiten und uns zu helfen, Wan und Gelle-Klara Moynlin aufzufinden. Ist Ihnen das recht?«
Das ging alles zu schnell, auch für Dolly Walthers. »Nun«, sagte sie, »ich …«
»Also schön!«, unterbrach sie Essie und nickte. »Wir werden das in die Wege leiten. Leutnant! Bringen Sie uns zurück auf unser Schiff, die Wahre Liebe! Sofort, bitte!«
Der Leutnant machte schockiert den Mund auf. Ich kam ihm aber zuvor. »Essie, sollten wir nicht zuerst mit dem General sprechen?«
Sie drückte meine Hand und sah mich an. Der Blick war mitfühlend. Der Handdruck war eine Halt-die-Klappe-Robin-Warnung, die mir fast die Knöchel brach. »Mein armes Schäfchen«, erklärte sie schüchtern dem Leutnant, »hat gerade eine größere Operation hinter sich. Er ist verwirrt. Wir müssen zum Schiff wegen seiner Arznei, und zwar schnell!«
Wenn meine Frau Essie entschlossen ist, etwas zu tun, kann man nur mit ihr auskommen, indem man sie gewähren lässt. Ich wusste nicht, was sie vorhatte, wohl aber welche Rolle ich zu spielen hatte. Ich nahm die Haltung eines älteren Mannes an, der durch eine kürzliche Operation noch ganz benommen ist, und ließ mich von ihr hinter dem Leutnant durch die Korridore des Pentagons führen.
Wir kamen nicht schnell genug vorwärts, weil die Gänge des Pentagons ziemlich belebt waren. Der Leutnant blieb mit uns an einer Kreuzung stehen, als eine Abteilung Gefangener vorbeimarschierte. Aus irgendeinem Grund räumte man einen ganzen Zellenblock. Essie stieß mich an und zeigte auf die Monitore an den Wänden. Auf einem Teil sah man nur Wegweiser: Verpflegungsamt 7, Mannschaftslatrinen, Andockbereich V und so weiter. Aber auf dem anderen …
Auf dem anderen war der Andockbereich zu sehen. Etwas Riesiges lief dort ein. Groß, schwerfällig und von Menschen gebaut. Man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass es auf der Erde und nicht von den Hitschi konstruiert worden war. Das lag nicht so sehr an dem Design oder daran, dass es aus grauem Stahl statt aus dem blauen Hitschi-Metall gefertigt war. Der Beweis waren die bösartig aussehenden Schusswaffen, die ihre Mäuler aus dem glatten Bauch herausstreckten.
Das Pentagon hatte, wie ich wusste, sechs solcher Schiffe hintereinander bei dem Versuch verloren, den Hitschi Überlichtgeschwindigkeitsantrieb auf von Menschen gebaute Schiffe zu übertragen. Ich konnte mich darüber nicht aufregen. Durch diese Fehler hatte ich beim Bau der Wahren Liebe profitiert. Trotzdem war es nicht schön, die Waffen zu sehen. Auf einem Hitschi-Schiff sah man sie niemals.
»Weiter«, schnauzte uns der Leutnant an. »Sie sind nicht befugt, hier zu verweilen. Gehen Sie bitte weiter!« Er bog in einen relativ leeren Korridor ein, aber Essie hielt ihn zurück.
»Hier entlang geht es schneller«, schlug sie vor und zeigte auf das Schild.
»Betreten verboten!«, schnarrte er.
»Aber doch nicht für einen guten Freund des Pentagons, dem es schlecht geht«, sagte sie nur und nahm meinen Arm. Wir steuerten auf die dichteste und lärmendste Menschenansammlung geradewegs zu. Essie steckt voll von Geheimnissen. Aber dies klärte sich einen Augenblick später auf. Der Wirbel wurde durch die gefangenen Terroristen verursacht, die man vom Kreuzer brachte. Essie wollte sie sich nur mal aus der Nähe ansehen.
Der Kreuzer hatte das gestohlene Schiff abgefangen, als es aus der ÜLG kam, und abgeschossen. Anscheinend waren acht Terroristen an Bord gewesen – acht! Auf einem Hitschi-Schiff, das kaum fünf Personen Raum bot. Drei hatten überlebt und waren gefangen genommen worden. Einer lag im Koma. Einer hatte ein Bein verloren, war aber bei Bewusstsein. Der Dritte war wahnsinnig.
Diese wahnsinnige Person zog die Aufmerksamkeit auf sich. Es handelte sich um eine junge Negerin – aus Sierra Leone, sagte man –, die unaufhörlich schrie. Sie trug eine Zwangsjacke, in der sie schon länger steckte, wie es den Anschein hatte. Die Jacke stank und wies Flecken auf. Die Haare der jungen Frau waren verfilzt, ihr Gesicht leichenblass. Jemand rief meinen Namen; aber ich schob mich mit Essie nach vorn, um besser sehen zu können. »Sie spricht Russisch«, stellte Essie fest, »aber nicht sehr gut. Georgischer Akzent, sehr stark. Sagt, sie hasst uns.«
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