Nach zehn Minuten hatte Albert die Erlaubnis zum Abflug erhalten, während Essie und ich uns wuschen und anzogen. Die Wahre Liebe flitzte aus ihrer Andockgrube, und wir waren auf dem Weg zum Hohen Pentagon.
Meine liebe Frau, Essie, hatte viele Tugenden. Eine davon war eine Uneigennützigkeit, dass mir die Luft wegblieb. Eine andere war ihr Sinn für Humor, den sie manchmal in ihre Programme einbaute. Albert war wie ein forscher Pilot gekleidet: Lederkappe mit flatternden Ohrenklappen, weißer Richthofenschal, den er wie der Rote Baron um den Hals geschlungen trug. So saß er auf dem Pilotensitz und beobachtete wild entschlossen die Armaturen. »Du kannst dir das sparen, Albert«, bemängelte ich.
Er drehte den Kopf und lächelte dümmlich. »Ich wollte dich nur unterhalten«, gab er vor und nahm die Lederkappe ab.
»Ist dir auch voll gelungen.« Ich hatte mich wirklich amüsiert. Alles in allem fühlte ich mich gut. Man konnte eine durch ungelöste Probleme entstandene niederschmetternde Depression nur so bekämpfen, dass man sich den Problemen stellte – auf die eine oder andere Weise –, und das jetzt war eine Weise. Ich wusste die liebevolle Fürsorge meiner Frau zu schätzen. Ich schätzte auch die Art, wie mein neues Schiff dahinglitt. Ich schätzte sogar die geschickte Art und Weise, mit welcher der holographische Albert sich seiner Kappe und seines Schals entledigte. Sie verschwanden nicht einfach. Er rollte sie zusammen und verstaute sie zwischen den Beinen. Ich nehme an, er wartete mit dem Verschwindenlassen, bis niemand hinschaute. »Ist deine ganze Konzentration nötig, um das Schiff zu fliegen, Albert?«, fragte ich.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete er. »Es hat ein automatisches Navigationsprogramm.«
»Dann ist also deine Anwesenheit lediglich ein weiterer Versuch, mich bei guter Laune zu halten? Warum versuchst du nicht etwas anderes? Plaudere mit mir! Erzähl mir etwas von den Dingen, mit denen du so gerne angibst. Du weißt schon! Kosmologie, die Hitschi, der Sinn des Ganzen und Gott.«
»Wenn du meinst«, sagte er ergeben. »Aber vielleicht möchtest du vorher noch diese Nachricht sehen, die gerade hereingekommen ist.«
Essie sah aus der Ecke zu mir herüber. Sie ging gerade die gesammelten Kundenkommentare durch, als Alberts Starfoto vom großen Schirm verschwand. Jetzt stand dort:
Robinette, mein Junge, für einen Kerl, der die Brasilianer dazu gebracht hat, sich auf den Rücken zu legen und totzustellen, ist nichts unmöglich. Das Hohe Pentagon ist über deinen Besuch informiert und angewiesen, dir jeden Gefallen zu tun. Die Bude gehört dir.
Manzbergen.
»Bei Gott!«, rief ich überrascht und erfreut zugleich. »Sie haben es getan! Sie haben ihre Unterlagen zur Verfügung gestellt!«
Albert nickte. »Sieht so aus, Robin. Du kannst mit Recht auf deine Bemühungen stolz sein.«
Essie kam herüber und küsste mich in den Nacken. »Diese Bemerkung unterschreibe ich«, schnurrte sie. »Ausgezeichnet, Robin! Du bist ein Mann mit großem Einfluss!«
»Ach was«, wiegelte ich ab und grinste. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Wenn die Brasilianer ihre Unterlagen über die Suche und Lokalisierung den Amerikanern überlassen hatten, konnten die Amerikaner diese mit ihren eigenen Angaben kombinieren und einen Weg finden, um mit den verdammten Terroristen und ihrem Wahnsinn verbreitenden TPSE da draußen im All fertig zu werden. Kein Wunder, dass General Manzbergen mit mir so zufrieden war! Ich war selbst mit mir zufrieden. Hier konnte man wieder mal sehen, dass man bei unüberwindlich erscheinenden Problemen nur eines entschieden anpacken muss, dann verschwinden auch alle anderen ganz von selbst … »Was?«
»Ich habe gefragt, ob du immer noch an einer Unterhaltung interessiert bist«, fragte Albert sehnsüchtig.
»Aber sicher. Warum nicht?« Essie saß wieder in ihrer Ecke, sah aber mehr zu Albert als auf ihre Berichte.
»Wenn es dir recht ist«, schlug Albert schüchtern vor, »würde es mir Freude machen, statt über Kosmologie und Eschatologie und fehlende Masse über mein früheres Leben zu sprechen.«
Essie verzog das Gesicht und machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Aber ich winkte ab. »Lass ihn reden, Liebes! Ich glaube nicht, dass meine Gedanken sich jetzt auf fehlende Masse konzentrieren können.«
Und so erzählte uns Albert auf dem kurzen, angenehmen Flug zum Hohen Pentagon aus seinem Leben. Er hatte es sich im Pilotensitz bequem gemacht und die Hände über dem runden Bäuchlein in der ausgeleierten Strickjacke gefaltet. Er schwärmte von den Tagen, als er noch im Patentbüro in der Schweiz gearbeitet hatte, und wie die Königin von Belgien sein Geigenspiel auf dem Klavier begleitet hatte. Und unterdessen wurde meine Freundin-dritter-Hand, Dolly Walthers, mit allem Nachdruck von den Offizieren des militärischen Nachrichtendienstes im Hohen Pentagon vernommen. Und unterdessen beseitigte mein Noch-nicht-Freund Kapitän die Spuren seiner Intervention und betrauerte seine verlorene Liebe. Und unterdessen war meine Einmal-mehr-als-Freundin Klara Moynlin …
Ich wusste nicht, was Klara unterdessen tat, jedenfalls damals nicht. Eigentlich wollte ich auch die Einzelheiten gar nicht wissen.

Am schwersten fiel Klara in ihrem neuen Leben, den Mund zu halten. Sie war eine Kämpfernatur, und mit jemandem wie Wan entstand Streit nur allzu leicht. Wan wollte Essen, Sex, Unterhaltung und gelegentliche Hilfestellung beim Fliegen des Raumschiffs – aber nur dann , wenn er es wollte, zu keinem anderen Zeitpunkt. Klara wollte Zeit zum Nachdenken. Sie wollte darüber nachdenken, wie ihr Leben auf so erstaunliche Weise aus der Bahn geraten war. Der Möglichkeit, ihr Leben zu verlieren, hatte sie immer schon ins Auge geblickt – wenn auch nicht stets sehr mutig, so doch wenigstens standhaft. Die Möglichkeit eines so ausgefallenen Missgeschicks, eine Generation lang auf einem Abstellgleis in einem Schwarzen Loch hängen zu bleiben, während sich die Welt ohne sie weiterdrehte, war ihr noch nie eingefallen. Das erforderte Nachdenken.
Wan interessierten Klaras Bedürfnisse überhaupt nicht. Wenn er sie brauchte, hatte sie da zu sein. Wenn er sie nicht wollte, machte er das sehr deutlich. Seine sexuellen Wünsche störten Klara am wenigsten. Die waren meist nicht mühsamer oder von persönlicherer Bedeutung als ein Besuch auf der Toilette. Das Vorspiel bestand für Wan darin, dass er seine Hosen auszog. Den Akt erledigte er seinem Tempo entsprechend, und das war blitzschnell. Es störte Klara weniger, dass ihr Körper benutzt, als dass ihre Aufmerksamkeit vergewaltigt wurde.
Klaras angenehmste Stunden waren, wenn Wan schlief. Das dauerte aber meist nicht lange. Wan hatte einen leichten Schlaf. Aber dann konnte sie sich zu einem Gespräch mit den Toten Menschen niederlassen oder sich etwas zu essen machen, das Wan nicht besonders mochte, oder einfach dasitzen und ins All starren – diese Redensart nahm eine ganz andere Bedeutung an, wenn man als einzigen Gegenstand, der weiter als eine Armlänge entfernt war, einen Bildschirm hatte, der unmittelbar ins All hinausschaute. Kaum hatte sie es sich gemütlich gemacht, kam meist die schrille, quälende Stimme: »Du tust mal wieder gar nichts, Klara. Du bist ein faules Luder. Dolly hätte mir schon längst einen Haufen Schokoladenplätzchen gebacken!« Noch schlimmer war es, wenn er zum Spielen aufgelegt war. Dann holte er die Pülverchen und Apothekerfläschchen, dazu noch Silberdöschen mit rosa und lila Pillen. Wan hatte gerade erst Drogen entdeckt. Er wollte diese Erfahrung mit Klara teilen. Manchmal ließ sie sich auch aus Langeweile oder Verzweiflung dazu überreden. Keinesfalls aber spritzte, schnüffelte oder schluckte sie etwas, das sie nicht eindeutig identifizieren konnte. Und sie wies noch eine Menge Zeug zurück, bei dem sie es konnte. Aber andererseits nahm sie auch eine Menge. Die Euphorie, das Brausen – es dauerte zwar nicht lange, war aber doch eine segensreiche Ablenkung von der Leere eines Lebens, das einmal kurz gerülpst hatte, dann gestorben war und nun wieder von neuem begann. Es war immer noch besser, mit Wan high zu werden oder sogar mit ihm ins Bett zu gehen, als der Frage ausweichen zu müssen, die Wan stellte und auf die sie keine ehrliche Antwort geben wollte:
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