Was ist der Liebesbrief? dachte Qing-jao. Linien zurückkehrender Gänse – doch in diesem Raum gab es keine Gänse. Blumenblätter, die über einem fließenden Strom tanzen – doch hier gab es keine Blumenblätter, hier gab es keinen Strom.
›Doch wenn mein Blick sich senkt, bleibt mein Herz oben.‹ Das war der Hinweis, das war die Antwort, sie wußte es. Langsam und vorsichtig rollte sich Qing-jao auf den Bauch. Als sie einmal versuchte, ihre linke Hand zu belasten, krümmte sich ihr Ellbogen, und ein stechender Schmerz ließ sie fast wieder das Bewußtsein verlieren. Schließlich kniete sie, den Kopf gesenkt, und blickte nach unten. Das Gedicht versprach ihr, daß dies ihr Herz oben bleiben lassen würde.
Sie fühlte sich nicht besser – noch immer schmutzig, noch immer voller Schmerzen. Als sie hinabschaute, sah sie nichts bis auf die polierten Bodenbretter; die Maserung des Holzes, deren gekräuselte Linien von der Stelle zwischen ihren Knien bis zum Rand des Raumes verliefen.
Linien. Linien der Holzmaserung, Linien aus Gänsen. Und konnte man die Holzmaserung nicht auch als fließende Ströme sehen? Sie mußte diesen Linien folgen wie den Gänsen; sie mußte wie ein Blumenblatt über diese fließenden Ströme tanzen. Das war die Bedeutung des Versprechens: Wenn ihr Blick sich senkte, würde ihr Herz oben bleiben.
Sie fand eine ganz besondere Linie in der Holzmaserung, eine dunkle Linie, wie ein Fluß, der sich durch einen helleren Wald schlängelt, und wußte sofort, daß dies der Strom war, dem sie folgen sollte. Sie wagte es nicht, ihn mit ihrem Finger zu berühren – mit ihrem schmutzigen, unwürdigen Finger. Nur ihre Blicke konnten der Linie folgen.
Also schickte sie sich an, der Linie nachzuspüren, sie sorgfältig bis zur Wand zu verfolgen. Ein paar Mal bewegte sie sich so schnell, daß sie die Linie verlor, vergaß, welche es war; doch sie fand sie schnell wieder oder glaubte dies zumindest, und folgte ihr zur Wand. Reichte das aus? Waren die Götter zufrieden?
Fast, aber nicht ganz – sie konnte nicht sicher sein, daß ihr Blick zu der richtigen Linie zurückgekehrt war, als sie sie verloren hatte. Blumenblätter wechseln nicht von einem Strom zum anderen. Sie mußte der richtigen Linie folgen, über die gesamte Länge. Diesmal fing sie bei der Wand an und bückte sich sehr tief, so daß ihre Augen nicht einmal von den Bewegungen ihrer eigenen rechten Hand abgelenkt wurden. Zentimeter um Zentimeter folgte sie der Linie, blinzelte dabei nicht einmal, gleichgültig, wie stark ihre Augen brannten. Sie wußte, wenn sie die Maserung verlor, der sie folgte, mußte sie wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren und von vorn anfangen. Es mußte perfekt gemacht werden, oder es würde alle Macht verlieren, sie zu reinigen.
Es dauerte ewig. Sie blinzelte doch. Als ihre Augen zu sehr brannten, senkte sie den Kopf, bis sich das linke Auge direkt über der Maserung befand. Dann schloß sie das andere Augen einen Moment lang. Nachdem sich das rechte Auge erholt hatte, öffnete sie es, hielt nun dieses Auge direkt über die Linie im Holz und schloß das linke. Auf diese Art gelang es ihr, es halbwegs durch den Raum zu schaffen, bis das Brett endete und an ein anderes stieß.
Sie war sich nicht sicher, ob es reichte, dieses Brett zu Ende zu verfolgen oder ob sie eine neue Linie in der Maserung suchen und weiterverfolgen mußte. Sie tat so, als wolle sie aufstehen, stellte die Götter auf die Probe, um zu sehen, ob sie zufrieden waren. Sie erhob sich halbwegs, spürte nichts; sie stand, und noch immer ging es ihr gut.
Ah! Sie waren zufrieden mit ihr. Nun fühlte sich die Schmiere auf ihrer Haut kaum anders als Öl an. Es bestand kein Grund, sich zu waschen, denn sie hatte eine andere Möglichkeit gefunden, sich zu reinigen, eine andere Möglichkeit für die Götter, sie zu disziplinieren. Langsam legte sie sich wieder auf den Boden, lächelte, weinte leise vor Freude. Li Qing-jao, meine Vorfahrin-des-Herzens, danke, daß du mir den Weg gezeigt hast. Nun habe ich mich zu den Göttern gesellt; die Trennung ist vorüber. Mutter, ich bin erneut mit dir verbunden, sauber und würdig. Weißer Tiger des Westens, nun bin ich rein genug, um dein Fell zu berühren und keinen Abdruck des Schmutzes zu hinterlassen.
Dann berührten Hände sie – Vaters Hände, die sie hochhoben. Wassertropfen fielen auf ihr Gesicht, die nackte Haut ihres Körpers – Vaters Tränen. »Du lebst«, sagte er. »Meine Tochter, zu der die Götter sprechen, mein Schatz, mein Leben, ›Strahlend Hell‹, du leuchtest weiter.«
Später würde sie erfahren, daß Vater während ihrer Prüfung gefesselt und geknebelt werden mußte, daß er sich, als sie auf die Statue kletterte und Anstalten machte, ihre Kehle auf das Schwert zu drücken, mit solcher Kraft nach vorn warf, daß der Stuhl umkippte und er mit dem Kopf auf den Boden schlug. Das wurde als große Gnade betrachtet, da es ihm ersparte, ihren schrecklichen Sturz von der Statue beobachten zu müssen. Die ganze Zeit, die sie bewußtlos dalag, weinte er um sie. Und als sie sich dann auf die Knie erhob und die Holzmaserungen im Boden aufzuspüren begann, war er derjenige, der begriff, was es zu bedeuten hatte. »Seht«, flüsterte er. »Die Götter haben ihr eine Aufgabe gegeben. Die Götter sprechen zu ihr.«
Die anderen verstanden es nur langsam, denn sie hatten noch nie gesehen, daß jemand die Linien von Holzmaserungen verfolgte. Es stand nicht im Verzeichnis der Stimmen der Götter: Tür-Warten, Gegenstände-Zählen, Zufällige-Morde-Überprüfen, Fingernägel-Ausreißen, Haut-Zerkratzen, Haare-Ausreißen, An-Steinen-Nagen – all das war als die Buße bekannt, die die Götter verlangten, als Rituale des Gehorsams, die die Seele des Gottberührten reinigten, so daß die Götter seinen Verstand mit Weisheit füllen konnten. Niemand hatte je gesehen, daß jemand Holzmaserungslinien verfolgte. Doch Vater sah, was sie tat, gab dem Ritual einen Namen und fügte es dem Verzeichnis der Stimmen hinzu. Es würde für immer ihren Namen tragen, Han Qing-jao, als die erste, die von den Göttern den Befehl erhalten hatte, diesen Ritus zu vollziehen. Es machte sie zu etwas ganz Besonderem.
Das galt auch für ihren ungewöhnlichen Einfallsreichtum, Möglichkeiten zu finden, ihre Hände zu säubern und, später, sich zu töten. Viele hatten natürlich versucht, die Hände an den Wänden abzuwischen, und die meisten, sie an ihrer Kleidung zu säubern. Aber die Hände zu reiben, um Reibungswärme zu erzeugen, das galt als selten und klug. Und während das Schlagen des Kopfes gegen die Wand üblich war, geschah es sehr selten, daß jemand auf eine Statue kletterte, heruntersprang und auf dem Kopf landete. Überall im Tempel sprach man darüber, und die Nachricht verbreitete sich bald in allen Tempeln auf Weg.
Es war natürlich auch eine große Ehre für Han Fei-tzu, daß seine Tochter so sehr von den Göttern besessen war. Und die Geschichte, wie er beinahe dem Wahnsinn verfallen wäre, als sie versuchte, sich zu töten, verbreitete sich genauso schnell und berührte viele Herzen. »Er mag der größte der Gottberührten sein«, sagte man über ihn, »doch er liebt seine Tochter mehr als das Leben.« Und deshalb liebten sie ihn so sehr, wie sie ihn schon immer verehrt hatten.
Danach begannen die Leute darüber zu flüstern, daß Han Fei-tzu selbst vielleicht göttlich sein könnte. »Er ist so groß und stark, daß die Götter auf ihn hören werden«, sagte die Leute, die ihm ihre Gunst geschenkt hatten. »Und doch ist er so hingebungsvoll, daß er die Menschen des Planeten Weg immer lieben und versuchen wird, Gutes für uns zu tun. Sollte der Gott einer Welt nicht genauso sein?« Natürlich war es unmöglich, schon jetzt zu einer Entscheidung zu gelangen – ein Mensch konnte erst nach seinem Tod zum Gott eines Dorfes, geschweige denn einer ganzen Welt erwählt werden. Wie sollte man wissen, was für ein Gott er sein würde, bis man sein gesamtes Leben kannte, vom Anfang bis zum Ende?
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