Erst als sie alles erklärt hatten, begriff Ender, wieviel Selbstbeherrschung Pflanzer gezeigt hatte, um überhaupt auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, bis sie fertig waren. In dem Augenblick, in dem sie ihm sagten, das sei alles gewesen, sprang er hinab und lief – nein, tobte – durch den Raum, berührte alles. Er schlug nicht danach, stieß nichts um, wie ein Mensch es vielleicht getan hätte; statt dessen streichelte er alles, was er berührte, ertastete die Gegenstände. Ender stand da und wartete, daß Pflanzer zu ihm kam, hoffte, ihm etwas Trost bieten zu können, denn er wußte genug vom Verhalten der Pequeninos, um zu begreifen, daß solch ein ungewöhnliches Benehmen nur bedeuten konnte, daß Pflanzer unter höchstem Druck stand.
Pflanzer lief, bis er völlig erschöpft war, machte aber immer noch weiter, torkelte wie betrunken durch den Raum, bis er schließlich gegen Ender prallte, die Arme um ihn warf und sich an ihm festhielt. Einen Augenblick lang wollte Ender ihn ebenfalls umarmen, doch dann erinnerte er sich, daß Pflanzer kein Mensch war. Pflanzer rechnete gar nicht damit, daß Ender die Umarmung erwiderte; er klammerte sich an ihn, wie er sich an einen Baum klammern würde. Er suchte den Trost eines Stammes. Einen sicheren Platz, wo er sich festhalten konnte, bis die Gefahr vorbei war. Ender würde ihm weniger und nicht mehr Trost schenken, wenn er wie ein Mensch reagierte und die Umarmung erwiderte. Er mußte reagieren wie ein Baum. Also hielt er still und wartete. Wartete und hielt still. Bis wenigstens das Zittern aufhörte.
Als sich Pflanzer von ihm löste, waren sie beide in Schweiß gebadet. Meiner Baumähnlichkeit sind wohl Grenzen gesetzt, dachte Ender. Oder geben Mutterbäume und Vaterbäume Feuchtigkeit an die Brüder ab, die sich an sie klammern?
»Das ist sehr überraschend«, flüsterte Pflanzer.
Die Worte waren im Vergleich zu der Szene, die sich gerade abgespielt hatte, so absurd sanft, daß Ender unwillkürlich laut auflachen mußte. »Ja«, sagte er. »Das kann ich mir vorstellen.«
»Für sie ist es nicht komisch«, sagte Ela.
»Das weiß er«, sagte Valentine.
»Dann darf er nicht lachen«, sagte sie. »Du darfst nicht lachen, wenn Pflanzer solchen Schmerz empfindet.« Und sie brach in Tränen aus.
Valentine legte eine Hand auf ihre Schulter. »Er lacht, du weinst«, sagte sie. »Pflanzer läuft herum und klettert auf Bäume. Was für seltsame Tiere wir doch alle sind.«
»Alles kommt von der Descolada«, sagte Pflanzer. »Das dritte Leben, der Mutterbaum, die Vaterbäume. Vielleicht sogar unser Geist. Vielleicht waren wir nur Baumratten, als die Descolada kam und falsche Ramänner aus uns machte.«
»Echte Ramänner«, sagte Valentine.
»Wir wissen nicht, ob es stimmt«, sagte Ela. »Es ist nur eine Hypothese.«
»Es ist sehr, sehr wahr«, sagte Pflanzer. »Wahrer als wahr.«
»Woher willst du das wissen?«
»Alles paßt zusammen. Planetare Regulation – darüber weiß ich Bescheid. Ich habe Gaialogie studiert, und die ganze Zeit über dachte ich, wie kann diese Lehrerin uns diese falschen Dinge erzählen, wenn sich doch jeder Pequenino umsehen und erkennen kann, daß sie falsch sind? Aber wenn wir wissen, daß uns die Descolada verändert, daß sie dafür sorgt, daß wir das planetare System regulieren…«
»Wie kann die Descolada dafür sorgen, daß ihr den Planeten reguliert?« fragte Ela.
»Ihr kennt uns nicht lange genug«, sagte Pflanzer. »Wir haben euch nicht alles gesagt, weil wir dachten, ihr würdet uns für dumm halten. Jetzt wißt ihr, daß wir nicht dumm sind, sondern nur tun, was ein Virus uns sagt. Wir sind keine Dummköpfe, sondern Sklaven.«
Pflanzers Geständnis, daß die Pequeninos noch immer einiges auf sich nahmen, um die Menschen zu beeindrucken, verblüffte Ender. »Wieso hat euer Verhalten etwas mit der Regulierung des Planeten zu tun?«
»Bäume«, sagte Pflanzer. »Wie viele Wälder gibt es auf der ganzen Welt? Sie schwitzen ständig. Verwandeln Kohlendioxyd in Sauerstoff. Kohlendioxyd ist ein Treibhausgas. Wenn mehr davon in der Atmosphäre ist, wird die Welt wärmer. Was müssen wir also tun, um die Welt kälter zu machen?«
»Mehr Wälder pflanzen«, sagte Ela. »Mehr CO 2verbrauchen, damit mehr Wärme in den Raum entweichen kann.«
»Ja«, sagte Pflanzer. »Aber bedenke, wie wir unsere Bäume pflanzen.«
Die Bäume wachsen aus den Leichen der Toten, dachte Ender. »Krieg«, sagte er.
»Es gibt Zwistigkeiten zwischen den Stämmen, und manchmal führen sie kleine Kriege«, sagte Pflanzer. »Das ist im planetaren Maßstab gar nichts. Aber große Kriege, die die ganze Welt überziehen – Millionen und Abermillionen Brüder sterben in diesen Kriegen, und alle werden Bäume. Innerhalb von ein paar Monaten könnten sich die Wälder der Welt in Zahl und Größe verdoppeln. Das würde einen Unterschied machen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Ela.
»Und wäre viel wirksamer als alles, was durch natürliche Evolution geschehen könnten«, sagte Ender.
»Und dann hören die Kriege auf«, sagte Pflanzer. »Wir glauben immer, es gibt große Ursachen für diese Kriege, daß sie Kämpfe zwischen Gut und Böse sind. Und jetzt waren sie die ganze Zeit über nichts als planetare Regulation.«
»Nein«, sagte Valentine. »Das Bedürfnis zu kämpfen, der Zorn, das könnte von der Descolada kommen, aber es heißt nicht, daß die Gründe, weshalb ihr kämpft…«
»Der Grund, weshalb wir kämpfen, ist die planetare Regulation«, sagte Pflanzer. »Alles paßt zusammen. Was glaubt ihr, wie wir helfen, den Planeten zu erwärmen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ela. »Selbst Bäume sterben schließlich an Altersschwäche.«
»Du weißt es nicht, weil ihr während einer Warmzeit gekommen seid, nicht während einer Kaltzeit. Doch wenn der Winter schlimm wird, bauen wir Häuser. Die Bruderbäume geben sich uns, damit wir Häuser bauen können. Wir alle, nicht nur die, die an kalten Orten leben. Wir alle bauen Häuser, und die Wälder werden um die Hälfte, um drei Viertel reduziert. Wir dachten, das sei ein großes Opfer, das die Bruderbäume dem Stamm zuliebe machen, doch jetzt begreife ich, daß es die Descolada ist, die mehr Kohlendioxyd in der Atmosphäre haben will, um den Planeten zu erwärmen.«
»Es ist trotzdem ein großes Opfer«, sagte Ender.
»All unsere großen Heldenlieder«, sagte Pflanzer. »All unsere Helden. Nur Brüder, die nach dem Willen der Descolada handeln.«
»Na und?« fragte Valentine.
»Wie kannst du das sagen? Ich erfahre, daß unser Leben nichts ist, daß wir nur Werkzeuge sind, die ein Virus benutzt, um das globale Ökosystem zu regulieren, und du sagst ›Na und‹?«
»Ja«, erwiderte Valentine. »Wir Menschen sind nicht anders. Bei uns mag es kein Virus sein, aber wir verbringen die meiste Zeit damit, unserer genetischen Programmierung zu folgen. Nimm die Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Männer neigen von Natur aus zu einer breit gefächerten Reproduktionsstrategie. Da Männer einen fast unbegrenzten Vorrat an Spermien haben und es sie nichts kostet, ihren Samen zu verteilen…«
»Nicht nichts«, sagte Ender.
»… zu verteilen«, fuhr Valentine fort, »besteht ihre vernünftigste Reproduktionsstrategie darin, ihn in jeder verfügbaren Frau zu deponieren – und besondere Anstrengungen zu unternehmen, ihn in den gesundesten Frauen zu deponieren, bei denen es am wahrscheinlichsten ist, daß ihr Nachwuchs ein reproduktionsfähiges Alter erreicht. Rein von der Fortpflanzung her gesehen, täte ein Mann am besten daran, so weit wie möglich herumzuziehen und zu kopulieren.«
»Herumgezogen bin ich«, sagte Ender. »Irgendwie muß ich das Kopulieren verpaßt haben.«
»Ich spreche von allgemein gültigen Trends«, sagte Valentine. »Es gibt immer seltsame Individuen, die die Normen nicht befolgen. Die weibliche Strategie ist genau umgekehrt, Pflanzer. Anstelle von Abermillionen Spermien haben sie nur ein Ei im Monat, und jedes Kind stellt eine gewaltige Investition dar. Also brauchen Frauen Stabilität. Sie müssen sicher sein, immer genug Nahrung zu bekommen. Einen Großteil der Zeit über sind wir relativ hilflos und unfähig, Nahrung zu sammeln oder zu suchen. Wir Frauen ziehen also nicht herum, sondern bleiben an Ort und Stelle und gründen eine Familie. Wenn wir das nicht können, besteht unsere nächstbeste Strategie daraus, uns mit dem stärksten und gesundesten zur Verfügung stehenden Mann zu paaren. Aber am besten ist es, einen starken, gesunden Mann zu haben, der bei uns bleibt und für uns sorgt, anstatt herumzuziehen und frei zu kopulieren.
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