Die Uhr zeigte zehn Minuten nach zwei. Bis nach Mitternacht war er aufgeblieben, um die Übertragung im Fernsehen zu verfolgen. Es hatte allerdings keine Nachrichten gegeben. Was auch immer die Sowjets in Erfahrung gebracht haben mochten, sie hatten nichts darüber gesagt. Schließlich war er zu Bett gegangen. Und jetzt…
Seine Augen waren noch schlafverklebt. Die Krücke lehnte am Bett. Er gab den Versuch auf, seine Jacke zu finden, er würde nicht lange draußen bleiben.
Er schloß die Hintertür auf und trat unsicheren Schritts auf den Rasen hinaus.
Ruby rauchte seit Mitte der sechziger Jahre Marihuana und hatte die Wonnen des Rausches mit geradezu missionarischem Eifer verkündet. Was Harry veranlaßt hatte, ihrer Aufforderung zu folgen und in die kühle kalifornische Mainacht hinauszugehen, war die Erwägung: wer unter dem Einfluß von Drogen stand, mochte Dinge sehen, die es nicht gab, aber ebenso konnten es auch Dinge sein, die wirklich existierten.
Durch die nicht sehr dichte Wolkendecke schimmerten Sterne.
Etwas Helleres als ein Stern war gleichfalls zu erkennen, ein blendend heller Stecknadelkopf, der einen Schweif hinter sich herzog und im selben Augenblick auch schon wieder verschwand.
Eine lange, bläulichweiße Flamme entstand, war mehrere Sekunden lang sichtbar, während schmale Lichtstreifen von einem Ende wie Speere ausgingen. Weitere Lichter pulsierten langsam, wie Herzschläge.
Der Himmel war von seltsamen Lichtern erfüllt.
Harry ging wieder hinein, nahm das Fernglas aus einer Schublade, ertastete seine Windjacke auf einer Stuhllehne und stolperte erneut nach draußen. Der Himmel wirkte jetzt noch heller. Lichtbänder leuchteten im Westen und verschwanden wieder. Schmale grüne Striche stießen im Westen abwärts. Man sah phosphoreszierende Wölkchen, die sich träge ausdehnten.
Wäre es eine andere Nacht gewesen, hätte Harry das für einen Meteoritenschauer gehalten. Heute aber… Er hatte hundertfach von der Eroberung der Erde durch Außerirdische gelesen, und jede dieser Schilderungen hatte weit aufregender geklungen als dies Entstehen und Vergehen von Sternen und Lichtflecken. In einem Film wären noch die Klangeffekte hinzugekommen. Aber es sah tatsächlich echt aus.
Noch immer ohne Licht zu machen, tappte er ins Haus zurück, um ein Transistorradio zu suchen. Er nahm es mit nach draußen und stellte es auf einen Sender ein, der ausschließlich Nachrichten brachte.
»… haben die Raumstation der Sowjets ›Kosmograd‹ beschossen «, sagte der Sprecher. »Der Präsident hat alle Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen lassen. Die Bevölkerung wird aufgefordert, in den Häusern zu bleiben. Wir können nicht bestätigen, ob unsere Luftstreitkräfte das Raumschiff beschossen haben. Sprecher des Pentagons äußern sich nicht dazu. Hören Sie jetzt Generalleutnant Arien Gregory, einen Offizier der Luftstreitkräfte im Ruhestand. General, meinen Sie, daß die Vereinigten Staaten zurückschlagen werden?«
»Sehen Sie zum Himmel, Sie seltsamer Vogel«, sagte eine knurrende Stimme. »Was, zum Teufel, glauben Sie, was die Lichter da sollen?«
Harry sah hin und überlegte, während ein Flammenschein um den westlichen Horizont herumfuhr, aufleuchtete und erstarb. Dann zwei weitere. Keine Frage, was das war. Und was mach ich jetzt?
Hierbleiben und das Haus hüten. Nur – großer Gott, Wes Dawson war in Kosmograd! Und seine Frau Carlotta dürfte inzwischen im westlichen Kansas sein, niemand wußte genau, wo. Hätte sie sich nur die Waffen mitgenommen… Aber sie war nicht der Mensch, eine Pistole vom Kaliber 11,43 mm mitzunehmen.
Im Radio ertönte das vertraute Pieppiep, das eine neu hereingekommene Nachricht ankündigte.
»Einem bisher unbestätigten Bericht zufolge soll eine schwere Explosion im Hafen von San Diego stattgefunden haben«, teilte der Ansager mit. Seine Stimme klang wie die eines Mannes, der am liebsten losgeheult hätte, aber all seine Gefühle schon verbraucht hatte.
Vielleicht sollte ich Carlotta helfen. Wes würde das bestimmt wollen. Aber wie?
Sein Motorrad war zerlegt. Er hatte bei weitem nicht genug Geld für alles Nötige gehabt. Zwar hatte er so viel selbst getan, wie ihm möglich war, aber den Motor konnte nur die Werkstatt überholen. Er hatte ihn hingebracht, und soweit er wußte, war er auch schon fertig. Schön wär’s.
Bestimmt sahen auch noch andere zu. Bis zum Morgen würden sie es todsicher alle wissen.
Während Harry weiter den Himmel beobachtete, überlegte er. Die lange blaue Flamme entstand erneut, und diesmal schien sie nicht wieder zu erlöschen. Sterne, die sich im Westen erhoben, schienen nach ihr zu greifen, bis die grünen Lichtfäden sie berührten; dann leuchteten sie auf und verschwanden. Die blaue Flamme kroch ostwärts und wurde schneller. Im Fernglas zeigte sich etwas an ihrer Spitze. Harrys Augen tränten bei seiner Bemühung, Einzelheiten zu erkennen.
Dann ging er hinein und wusch sich das Gesicht.
Carlotta mochte ihn nicht. Na und? Harry nahm eine Flasche teuren Cognac aus Dawsons Barschrank, sechzig Dollar kostete so etwas, aber sonst war nichts mehr da. Er goß sich großzügig ein, sah das Glas an, überlegte, ob er etwas zurückgießen sollte und trank dann die Hälfte.
Carlotta mag mich nicht. Das Land liegt im Krieg mit Außerirdischen. Wes hat mich gebeten, mich um seine Sachen zu kümmern. Hier kann ich nichts tun, und wenn ich lange bleibe, sitz ich hier fest.
Er ging ans Telefon und wählte die Nummer in Kansas, die Carlotta hinterlassen hatte. Es klingelte lange. Dann meldete sich eine Stimme, nicht verschlafen. Männlich. »Bitte Mrs. Carlotta Dawson«, sagte Harry. Er konnte seiner Stimme einen amtlichen Klang verleihen, wenn er wollte.
Es dauerte einen Augenblick. »Ja?«
»Harry Reddington, Mrs. Dawson. Gibt es etwas, das ich für Sie tun soll?«
»Harry – Harry, Sie wissen nicht, was da oben passiert ist.«
»Doch, Ma’am. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht.«
Carlotta Dawsons Stimme ging in Störungen und Rauschen unter. Eine andere Stimme meldete sich. »Ist das ein Dienstgespräch?« wollte sie wissen. Dann war die Leitung tot.
Harry leerte das Glas. Wie weiter? Sie hat nichts gesagt. Wenn ich morgen noch hier bin, komm ich nie aus Los Angeles weg…
Er trank noch einen ordentlichen Schluck und schloß dann die Flasche mit Nachdruck.
Er verließ das Haus in einem sauberen Hemd und mit einem Sportjackett, das zwar recht alt, aber kaum getragen war. Bei sich hatte er Ausweispapiere, einen Schlafsack und den Brief des Abgeordneten Dawson. Um halb vier breitete er seinen Schlafsack auf der Treppe vor der Security Pacific National Bank aus.
* * *
Pawel Bondarew sah auf den Fernsehschirm, von dem das Bild verschwunden war. Um ihn herum begannen Offiziere und Ordonnanzen gleichzeitig zu sprechen. Das Geschnatter rief ihn in die Wirklichkeit zurück. »Oberst, ich wünsche, daß Ruhe eintritt!«
»Jawohl, Genosse Direktor.« Oberst Suworow schrie ziemlich laut in die Runde, und das Stimmengewirr erstarb.
Die Außerirdischen hatten Kosmograd angegriffen. Das hatte er mitbekommen, bevor die Verbindung abriß. Sie hatten grundlos und ohne vorherige Warnung gefeuert.
Ein orangefarbenes Licht blinkte beharrlich auf. Pawel nahm den Hörer des Codetelefons auf. »Ja, Genosse Vorsitzender.«
Erst hörte man leises Zischen, dann lautes, geradezu dröhnendes Rauschen. Die Offiziere an den Kontrolltischen der Nachrichteneinrichtungen redeten wieder laut durcheinander.
»Was ist geschehen?« wollte Bondarew wissen.
»Eine Atomexplosion in großer Höhe. Vielleicht mehrere. Ein EMP hat unser Fernmeldenetz lahmgelegt«, berichtete Suworow.
»Aha.« Und ohne Nachrichtenmittel – Bondarew merkte, wie Panik in ihm aufstieg. Das Codetelefon war tot. »Geben Sie mir Marschall Schawirin.«
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