Na ja. Vielleicht nicht Hunger. Ein bisschen Appetit allerdings schon. Und jetzt wedle ich doch mit dem Schwanz.
»Ah, sehr gut, Herkules. Wir beide verstehen uns auch ohne Worte!«
Sie hat Recht: Das Gespräch zwischen Mensch und Tier wird manchmal einfach überbewertet, es geht auch prima ohne. Luisa begleitet mich zurück in die Küche und holt mir das versprochene Stück Wurst aus dem Kühlschrank. Dann geht sie zurück in ihr Bett und ich in mein Körbchen.
Als Marc frühmorgens in die Küche stolpert, um einen Kaffee zu kochen, habe ich anscheinend doch noch ganz gut geschlafen, jedenfalls fühle ich mich einigermaßen fit. Entschlossen, diesem offenbar wichtigen Tag die Stirn zu bieten. Und Vorsicht, Tag! Es ist die Stirn eines Jagdhundes!
Marc gähnt und wuschelt sich selbst durch die Haare.
»Morgen, Herkules! Bereit für die große Sause?«
Ich wedele mit dem Schwanz.
»Ah, sehr gut. Weißt du, manchmal würde ich gerne mit dir tauschen. Einfach mal ein Haustier sein. Sich um nichts kümmern müssen. Und von dem ganzen Stress so rein gar nichts mitbekommen. Sich also gar keinen Kopf machen. Na ja.«
Bitte? Der spinnt wohl! Wenn der wüsste, um was ich mir hier alles Gedanken mache. Einfach mal Haustier sein und sich um nichts kümmern – wenn ich das schon höre! Der macht sich offensichtlich überhaupt keine Vorstellung, wie oft ich ihn schon aus seinem eigenen Schlamassel gerettet habe. Wenn ich allein daran denke, wie er sich damals erst mit Nina verabredet hat, die daraufhin später sauer auf Caro war. Also, wenn ich da nicht entschieden und energisch eingegriffen hätte, dann wären Marc und Caro heute mit Sicherheit kein Paar. Oder die Geschichte mit seiner Exfrau. Ich sehe uns noch im Café Violetta sitzen, und sie versucht, sich an ihn ranzumachen. Nur gut, dass ich dabei war und …
Es klingelt an der Tür. Nanu? Das ist ja ungewöhnlich. Wenn es morgens noch dunkel ist, kommen hier eigentlich nie andere Menschen vorbei. Auch Marc scheint sich zu wundern. Jedenfalls guckt er kurz zu mir runter, zuckt dann mit den Schultern und verschwindet Richtung Wohnungstür. Ich renne natürlich hinterher. Vielleicht ist es ja der Weihnachtsmann!
Marc öffnet die Tür – und erstarrt.
»Mutter! Was machst du denn schon hier?«
Tatsächlich. Vor der Tür steht Hedwig Wagner.
SECHS
Die Stimmung in der Küche entspricht der momentanen Jahreszeit: sehr frostig. Wortlos stellt Marc eine Tasse auf den Tisch, an dem seine Mutter jetzt sitzt.
»Danke für den Kaffee, mein Junge. Wo ist eigentlich Carolin?«
»Carolin schläft noch. Sie fühlt sich nicht so gut.«
»Fühlt sich nicht. Aha.« Hedwig Wagner macht eine kurze Pause und atmet schwer. »Nur gut, dass ich gekommen bin.« Das klingt irgendwie missbilligend, ganz so, wie auch der alte von Eschersbach geklungen hätte, wenn er jemand des Mü-ßiggangs überführt hätte, aber natürlich weiß Hedwig noch nichts von Caros Krankheit.
Marc seufzt und nimmt einen Schluck von dem Kaffee, den er sich selbst eingegossen hat, dann starrt er an die Küchendecke. Was es da wohl Interessantes zu sehen gibt? Bevor ich es selbst ergründen kann – was bei meinem kurzen Hals naturgemäß nicht ganz einfach ist –, schaut Marc schon wieder zu Oma Wagner hinüber. Der Anblick scheint ihn nicht wirklich zu erfreuen, er riecht gestresst.
»Wirklich, Mutter! Ich hatte dich extra gebeten, später zu kommen. Ich meine – ehrlich! Es ist erst acht Uhr morgens, was soll das?«
»Was das soll? Schau doch bloß mal, wie es hier überall aussieht, Junge! Ich denke, ihr erwartet in ein paar Stunden Gäste. Von wegen, ihr braucht keine Hilfe! Ich wusste doch genau, dass ich besser mal nach dem Rechten schaue.«
Was meint sie denn damit? Ich finde, in unserer Wohnung sieht es aus wie immer. Wenn man mal von der Tatsache absieht, dass momentan ungewöhnlich viele Tannenzweige in fast jedem Raum herumliegen und im Wohnzimmer sogar ein kleiner Baum steht, den Carolin vor ein paar Tagen ganz stolz angeschleppt hat. Etwas ganz Besonderes muss der sein. Anpinkeln darf man ihn jedenfalls nicht, das habe ich schon herausgefunden.
»Es sind ja auch noch ein paar Stunden Zeit, um aufzuräumen. Du hättest hier wirklich nicht mitten in der Nacht aufkreuzen müssen.«
»Mitten in der Nacht? Es müsste längst das Frühstück auf dem Tisch stehen, und deine Freundin liegt noch im Bett.«
»Ich sagte doch: Es geht Carolin nicht gut.«
»Na ja. Wie dem auch sei. Ich bin gekommen, um zu helfen. Außerdem habe ich noch eine Überraschung.«
Marc stöhnt.
»Oh, bitte, Mutter, keine wilden Aktionen! Was hast du vor?«
»Ich sagte doch: Überraschung. Mein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Mehr wird nicht verraten. Und jetzt räume ich hier erst einmal ein bisschen auf. Du willst in diesem Chaos doch wohl nicht deine Schwiegereltern empfangen.« Sie hält inne. »Wobei – es sind gar nicht wirklich deine Schwiegereltern. Wie nennt man Carolins Eltern denn nun bloß?«
»Klaus und Elke.«
»Das weiß ich doch, Junge!«
»Warum fragst du dann?«
»Du weißt genau, was ich meine!«
»Ja. Du meinst: Wann heiratet ihr endlich?«
»Stimmt doch gar nicht!« Hedwig klingt fast so eingeschnappt wie Herr Beck, wenn man seine Autorität als Menschenkenner anzweifelt, indem man beispielsweise behauptet, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Bevor die beiden sich aber noch richtig streiten können, kommt Luisa in die Küche und stürzt sich sofort auf ihre Großmutter.
»Oma! Hurra! Gut, dass du da bist – ich muss dir unbedingt mein Kostüm zeigen!«
»Engelchen! Endlich freut sich jemand, mich zu sehen!« Sie steht von der Bank auf. »Dann zeig mal dein Kostüm.«
»Marc, wirklich – der Tag ist bisher das genaue Gegenteil von dem, was du mir feierlich versprochen hast.«
Carolin liegt auf meinem Lieblingssofa und sieht sehr elend aus. Ich habe mich direkt neben das Sofa drapiert, und immerhin hat Caro noch die Kraft, mich mit einer Hand zu streicheln, während sie die andere Hand auf ihren Bauch gelegt hat. Ob sie wohl Bauchweh hat? Und liegt das nun an ihrer Krankheit oder an den vielen Schokoweihnachtsmännern?
»Ich kann doch auch nichts dafür, dass meine Mutter sich an keine Absprache hält.«
»Na, du hättest sie ja nicht hereinbitten brauchen.«
»Also, jetzt übertreibst du aber. Ich kann sie doch nicht an Heiligabend vor der Tür stehen lassen, nur weil sie ein bisschen früher als erwartet kommt.«
»Sieben Stunden, bevor wir mit ihr gerechnet haben, ist wohl etwas anderes als ein bisschen früher . Das ist einfach ätzend!«
»Na ja, aber immerhin hilft sie jetzt, alles vorzubereiten. Es ist bei uns in der Tat immer etwas chaotisch, da kann ein wenig Unterstützung doch nicht schaden.«
»Seit wann ist es bei uns denn immer ein bisschen chaotisch? Und wer hindert dich denn daran, selbst aufzuräumen, wenn dich hier was stört?«
»Hey, Spatzl, kein Streit jetzt. Ich verspreche dir, dass ich meine Mutter in Schach halte. Bleib du einfach hier liegen.«
In diesem Moment klingelt es an der Tür, und ein paar Minuten später steckt Oma Wagner den Kopf durch die Wohnzimmertür.
»Ach, hier seid ihr. Marc, wir brauchen dich mal kurz, meine Überraschung ist da.«
Marc steht auf und folgt ihr, ich bleibe einfach neben Caro liegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es diesmal der echte Weihnachtsmann ist, und lieber lasse ich mich weiter kraulen, als für den falschen aufzustehen. So groß wird die Überraschung schon nicht sein.
Oder doch? Ungefähr auf der Höhe, auf der eben Hedwigs Kopf im Türrahmen erschien, taucht auf einmal ein riesiger Baumwipfel auf. Nach und nach schiebt sich der gesamte Baum durch die Tür, getragen von zwei Männern, die ich noch nie zuvor gesehen habe, und von Marc, der schließlich den Stamm in den Raum schiebt. Als der Baum in Gänze im Zimmer ist, stellen die Männer ihn aufrecht hin, Marc hält ihn fest. Der Baum ist so groß, dass seine Spitze fast die Decke berührt – und die ist immerhin kaum niedriger als die im Salon von Schloss Eschersbach. Carolin hört auf, mich zu kraulen, und setzt sich mit einem Ruck auf.
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