Vor unserem Haus treffen wir unseren alten Gardinen-Schmidt, zusammen mit unserem Soldaten-Deserteur. Ich bin baff darüber, daß diese beiden sich auf die Straße wagen. Wir berichten von dem Toten, die Witwe ahmt seine Mundstellung nach. »Schlaganfall«, murmelt der Exsoldat. Sollen wir zusammen hingehen? »Ach was«, sagt Gardinen-Schmidt, »nachher fehlt irgendwas in seinen Taschen, dann sollen wir es gewesen sein.« Und im Nu ist auch für uns der Tote vergessen über der Tatsache, die Gardinen-Schmidt nun verkündet: »Alle Russen sind weg.« Sie haben unser Haus geräumt, sind aus dem ganzen Block abgezogen - während wir das Schmutzwasser holten, sind sie auf Lastwagen abgerollt. Gardinen-Schmidt erzählt, daß sie sich ihre Lastwagen gut gepolstert hätten, mit Matratzenteilen und Sofakissen aus den verlassenen Wohnungen.
Weg! Alle weg! Wir können es kaum fassen, blicken unwillkürlich straßenaufwärts, als müßten von dorther Last-wagen mit neuen Truppen anrollen. Aber nichts, nur Stille, seltsame Stille. Keine Gäule mehr, kein Pferdewiehern, kein Hahn. Bloß Pferdemist, und den fegt Portiers Jüngste soeben aus dem Hausflur. Ich sehe mir die Sechzehnjährige an, die einzige bisher, von der ich weiß, daß sie ihre Jungfernschaft an Russen verlor. Sie hat dasselbe dumme, selbstzufriedene Gesicht wie immer. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mir dies Erleben zum ersten Mal auf solche Art zuteil geworden wäre. Ich muß den Gedanken abbremsen, sowas ist nicht vorstellbar. Eines ist klar: Wäre an dem Mädel irgendwann in Friedenszeiten durch einen herumstreunenden Kerl die Notzucht verübt worden, wäre hinterher das übliche Friedensbrimborium von Anzeige, Protokoll, Vernehmung, ja von Verhaftung und Gegenüberstellung, Zeitungsbericht und Nachbarngetue gewesen - das Mädel hätte anders reagiert, hätte einen anderen Schock davongetragen. Hier aber handelt es sich um ein Kollektiv-Erlebnis, vorausgewußt, viele Male vorausbefürchtet - um etwas, das den Frauen links und rechts und nebenan zustieß, das gewissermaßen dazugehörte. Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden werden. Jede hilft jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen Gelegenheit gibt, sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien. Was natürlich nicht aus-schließt, das feinere Organismen als diese abgebrühte Berliner Göre daran zerbrechen oder doch auf Lebenszeit einen Knacks davontragen.
Zum ersten Mal seit dem 27. April wurde am Abend die Haustür wieder verschlossen. Damit beginnt, falls nicht wieder neue Truppen ins Haus gelegt werden, ein neuer Lebens-abschnitt für uns alle.
Dennoch rief es gegen 21 Uhr draußen nach mir. Mit seiner gequetschten Stimme wiederholte der Usbek viele Male meinen Namen (das heißt die russifizierte Form des Namens, wie sie mir der Major verliehen hat). Als ich hinausschaute, schimpfte und drohte der Usbek zu mir hinauf und wies ganz empört auf die verschlossene Haustür. Tja, mein Dicker, das hilft dir gar nichts. Ich ließ ihn ein, der Major folgte ihm auf dem Fuße, er hinkte beträchtlich. Das Radeln ist ihm schlecht bekommen. Wieder machte die Witwe ihm Kompressen. Das Knie sah gefährlich aus, dick geschwollen, rot. Mir unbegreiflich, wie einer damit radeln, damit tanzen und Treppen steigen kann. Es sind Roßnaturen, da können wir nicht mit.
Schlechte Nacht mit dem fiebernden Mann. Seine Hände waren heiß, die Augen trüb, er fand keinen rechten Schlaf, ließ auch mich nicht schlafen. Endlich graute der Morgen.
Ich führte den Major und Burschen hinunter, schloß ihnen die Haustür auf, nun wieder unsere Haustür. Hinterher eklige Arbeit: Der Usbek hat eine Art Ruhr, hat Klo und Wand und Fliesen bespritzt. Ich wischte mit etlichen herumliegenden Heften einer NS-Fachzeitschrift für Apotheker auf, machte sauber, so gut ich konnte, verplemperte fast das ganze, gestern abend vom Teich herangeschleppte Spülwasser. Wenn das Herr Pauli wüßte, der unentwegte Manikürer und Pedikürer, der so pimplig ist!
Weiter, nun der Dienstag. Gegen neun Uhr morgens an der Vordertür der Hausdactylus, den wir nach wie vor benutzen, obwohl kein Russe mehr im Haus ist. Es war die Grindige, Frau Wendt, sie hat das Gerücht vernommen, daß Frieden sei. In Süd und Nord soll der letzte, ungeordnete deutsche Widerstand zerschlagen sein. Wir haben kapituliert.
Die Witwe und ich atmen leichter. Gut, daß es so schnell ging. Herr Pauli flucht jetzt noch über den Volkssturm, die sinnlos Getöteten der letzten Stunde, die Alten und Müden, die hilflos Verbluteten, für die es nicht mal einen Lappen gab, die Wunden zu verbinden. Zersplitterte Knochen, die aus Zivilhosen stachen; schneebleiche Bündel auf Tragen, aus denen es eintönig tropfte; die lauen, glitschigen Blutpfützen überall in den Gängen... Pauli hat bestimmt Schweres durchgemacht. Gerade deshalb halte ich seine Neuralgie, die ihn seit über einer Woche ans Bett fesselt, zur Hälfte für eine Seelenkrankheit, für eine Zuflucht und Retirade. Manche Männer im Haus haben solche Zuflucht. So der Buchhändler seine Parteizugehörigkeit, so der Deserteur seine Desertion, so etliche andere Figuren ihre Nazivergangenheit, für die sie Deportation oder sonst etwas befürchten und hinter der sie sich verschanzen, wenn es Wasser zu holen oder sonst eine Tat zu wagen gilt. Die Frauen tun auch ihr Bestes, das Mannsvolk zu verstecken und es vor dem bösen Feind zu schützen. Denn was können sie uns schon tun? Sie haben uns ja alles getan.
Also spannen wir uns vor die Karre. Das ist logisch. Trotzdem bleibt ein Unbehagen. Ich muß jetzt oft daran denken, was für ein Trara ich um durchreisende Urlauber gemacht habe, welche Verwöhnung, wieviel Respekt. Dabei kamen sie zum Teil aus Paris oder Oslo, Städten also, die frontferner waren als das ständig bombardierte Berlin. Oder sie kamen gar aus tiefstem Frieden, aus Prag oder Luxemburg. Selbst wenn sie von der Front kamen, wirkten sie bis gegen 1943 so proper und gutgenährt, wie es heute nur wenige Menschen sind. Und sie erzählten gern Geschichten, in denen sie selbst eine gute Figur machten. Wir dagegen werden fein den Mund halten müssen, werden so tun müssen, als habe es uns, gerade uns ausgespart. Sonst mag uns am Ende kein Mann mehr anrühren. Hätte man wenigstens richtige Seife! Ich habe oft solche Gier danach, meine Haut gründlich abzuschrubben, glaube fest, daß ich mich hernach auch seelisch sauberer fühlen würde.
Am Nachmittag gutes Gespräch, ich will es möglichst wörtlich notieren, muß immer noch darüber nachdenken. Unvermutet tauchte der bucklige Doktor aus der Limonadenfabrik wieder auf, ich hatte ihn beinahe vergessen, obwohl ich früher öfters einmal ein paar Worte mit ihm im Luftschutzkeller gewechselt habe. Er hat bis zuletzt in einem unentdeckten Nachbarkeller die Zeit überstanden. Dorthin hat kein Russe gefunden. Freilich bekam der Doktor dafür die brühwarmen Berichte genotzüch-tigter Wasserholerinnen ab. Eine, sehr kurzsichtig, hat dabei ihre Brille eingebüßt und tappt nun völlig hilflos herum. Es stellt sich heraus, daß der bucklige Doktor ein »Genosse« ist. Das heißt, er hat bis 1933 der Kommunistischen Partei angehört, hat sogar einmal drei Wochen mit einer Intourist-Gruppe die Sowjetunion bereist und versteht ein paar Worte Russisch. Tatsachen, die er mir im Keller ebensowenig anvertraut hat wie ich ihm meine Reisen und Sprachkenntnisse. Derartige plumpe Vertraulichkeiten hat uns das Dritte Reich abgewöhnt. Trotzdem muß ich mich wundern. »Wieso sind Sie denn nicht vorgetreten und haben sich den Russen als ein Sympathisierender zu erkennen gegeben?«
Er sieht mich verlegen an. »Ich hätte es getan«, meint er dann. »Wollte nur die ersten wilden Tage vorübergehen lassen.« Und er fügt hinzu: »Ich werde mich die nächsten Tage auf dem Rathaus melden. Sobald es wieder Behörden gibt, werde ich mich zur Verfügung stellen.«
Читать дальше