Nun rufen die beiden nebenan in der Küche etwas herüber. Die in den Sesseln stehen umständlich auf, schlendern küchen-wärts, dem Rufe folgend. Leise krieche ich aus dem Bett, horche in der Tür eine Weile zur Küche hin, wo anscheinend getrunken wird. Husche dann durch den stockdunklen Flur, schleiche auf nackten Füßen, greife mir im vorbei meinen Mantel vom Haken und ziehe ihn übers Nachthemd.
Vorsichtig öffne ich die Vordertür. Sie ist nun, da die Witwe hinausgegangen ist, bloß eingeklinkt. Ich horche in das schweigsame, schwarze Treppenhaus. Nichts. Nirgends ein Laut oder ein Lichtschimmer. Wo mag die Witwe bloß hingegangen sein? Eben will ich treppauf steigen, da umfaßt mich von hinten im Dunkeln einer, der lautlos hinterdreinschlich.
Riesenpratzen, Schnapsdunst. Mein Herz hüpft wie verrückt. Ich flüstere, ich flehe: »Nur einer, bitte, bitte, nur einer. Meinetwegen Sie. Aber schmeißen Sie die anderen raus.«
Er verspricht es flüsternd und trägt mich wie ein Bündel auf beiden Armen durch den Korridor. Ich ahne nicht, welcher von den vieren es ist, wie er aussieht. Im dunklen, fast gänzlich scheibenlosen Vorderzimmer lädt er mich auf der kahlen, abgedeckten Bettstatt des früheren Untermieters ab. Ruft dann ein paar grobe Stummelsätze in Richtung Küche durch den Gang, klinkt die Tür hinter sich zu und legt sich im Dunkeln zu mir. Ich friere erbärmlich und bitte und bettle, mich doch nebenan ins aufgeschlagene Bett zurückzulassen. Er will nicht, scheint die Rückkehr der Witwe zu befürchten. Erst nach einer halben Stunde, als alles ruhig geblieben, ist er zum Umzug zu bewegen.
Das Automatengewehr klirrt nun am Bettpfosten; seine Mütze hat der Mann auf den Pfostenknauf gestülpt. Still für sich hat inzwischen das Talglicht weitergebrannt. Petka, so nennt sich der Soldat, hat einen Stiftskopf, blondes Borstenhaar wächst ihm dreieckig in die Stirn, es faßt sich an wie Sofaplüsch. Im übrigen ein Riese, breit wie ein Schrank, mit Holzfällerpratzen und weißen Zähnen. Ich bin so müde, so kaputt, weiß kaum noch, wo ich bin. Petka murkst herum, er ist aus Sibirien, naja. Sogar die Stiefel hat er jetzt ausgezogen. Mir ist taumelig, ich bin nur noch halb da, und diese Hälfte wehrt sich nicht mehr, sie fällt gegen den harten, nach Kernseife riechenden Leib. Endlich Ruhe, Dunkelheit, Schlaf.
Früh um vier kräht der Hahn, den der Troß mit sich führt. Ich bin gleich hellwach, ziehe meinen Arm unter Petka hervor. Der zeigt lächelnd seine weißen Zähne. Steht flink auf, erklärt mir, daß er jetzt Wache habe, daß er jedoch bestimmt um sieben Uhr wiederkehren werde - ganz bestimmt! Und er zerquetscht mir zum Abschied beinah die Finger.
Ich kroch wieder unter die Decke und schlief von Viertelstunde zu Viertelstunde unruhigsten Schlaf, fuhr einmal hoch von dem Schrei »Hilfe!«, da war es bloß der Hahn. Nun muht auch die Kuh. Ich wickle unseren Wecker aus dem Handschuh (d. h., der Wecker gehört der Witwe, aber ich tue ganz so, als ob ich mit zum Haushalt gehörte). Er liegt, der Vorsicht halber, in ein Frottetuch gewickelt, ganz hinten in einem Fach des Schrankes. Wir schauen nur darauf, wenn wir allein und sicher sind, möchten ihn nicht an die Iwans verlieren.
Es war fünf Uhr, da konnte ich nicht mehr schlafen. Ich stand auf, klopfte das Bett glatt, schob Kästen und Stühle wieder vor die unverschließbare Hintertür mit ihrem zerborstenen Schloß, räumte die leere Flasche weg, die die Männer hinterlassen hatten, und kontrollierte unsere Burgunderflaschen hinten im Küchenschrank, in einem alten Eimer. Sie haben gottlob nichts davon gefunden.
Durch die Fenster fällt graurötlicher Schein. Draußen ist immer noch Krieg. Gewummer und Stöße, doch ziemlich weit weg. Die Front rollt nun aufs Stadtzentrum zu. Ich ziehe mich an, wasche mich notdürftig und horche vorsichtig in das morgenstille Treppenhaus. Nichts als Schweigen und Leere. Wenn ich bloß wüßte, wohin die Witwe sich verkrochen hat! Ich getraue mich nicht, irgendwo zu klopfen, will niemanden er-schrecken.
Als ich wieder ins Treppenhaus horche, nahen sich Stimmen. Ich laufe aufwärts. Da kommen sie mir schon entgegen, Frauen, ein ganzer Trupp, voran die gottsjämmerlich schluch-zende Witwe. Sie taumelt mir in die Arme, jammert: »Sei mir nicht bös!« (Seit gestern duzen wir uns.) Ringsum schluchzen etliche Frauen mit. Ich lache erst mal in all den Jammer hinein: »Was denn? Ich lebe ja, alles geht vorüber!«
Während wir ein Stockwerk höher steigen, zu den Buchhänd-lersleuten, flüstert mir die Witwe zu, sie habe zuerst vergeblich an mehrere Türen geklopft und um Asyl für sich und mich gebeten. Nirgends sei ihr aufgetan worden. Ja, bei den Postrats habe man ihr über die Türkette hinweg zugezischt: »Das Mädel? Nee, wir wollen uns die Kerle nicht auf den Hals locken!« Im Stockdunkeln hat dann einer die Witwe im Treppenhaus zu fassen bekommen, hat sie auf die Dielen geworfen... Ein Kind noch, so flüstert sie; bartlos, glatt und unerfahren - und sie lächelt dabei mit dickverheultem Gesicht. Ich weiß nicht genau, wie alt sie ist, sie würde es mir vielleicht nicht sagen. Sie muß zwischen vierzig und fünfzig sein, ihr Haar ist gefärbt. Denen ist Frau Frau, wenn sie sich im Finstern einen Leib greifen.
In der Wohnung des Buchhändler-Ehepaares sind an die fünfzehn Leute aus dem Haus untergekrochen, haben sich Bettzeug herangeschleppt, sich auf Sofas, auf dem Boden, überall, wo noch Platz ist, eingerichtet. Denn diese Wohnung hat an der Vorder- wie an der Hintertür Patentschlösser und in den Boden eingreifende Stoßstangen. Außerdem ist die Vorder-tür innen mit Metall beschlagen.
Wir sitzen um den fremden Küchentisch, alle hohläugig, grünbleich, übernächtigt. Alle flüstern, wir atmen gepreßt, trinken gierig den heißen Malzkaffee (gekocht auf einem Herdfeuer aus Naziliteratur, wie der Buchhändler uns verrät).
Immer wieder starren wir die verriegelte, verrammelte Hintertür an, hoffend, daß sie halten möge. Hungrig stopfe ich das fremde Brot. Da - Schritte auf der Hintertreppe, und die fremden Laute, die uns so grob und tierisch in den Ohren tönen. Erstarrung und Schweigen rings um den Tisch. Wir halten im Kauen inne, der Atem stockt uns allen. Hände krampfen sich gegen die Brust. Augen flackern irr. Wieder Stille draußen, die Schritte verhallen. Jemand flüstert: »Wenn das so weitergehen soll...«
Keine Antwort. Das Flüchtlingsmädel aus Königsberg, das auch hier unterkam, wirft sich schreiend über den Tisch: »Ich kann nicht mehr! Ich mache Schluß!« Sie hat es in der Nacht mehrfach aushalten müssen, unterm Dach, wohin sie vor einem ganzen Haufen Verfolger geflohen war. Das Haar hängt ihr wirr ums Gesicht, sie mag nicht essen noch trinken.
Wir sitzen, warten, horchen. Über uns orgelt nun Artillerie. Schüsse peitschen durch unsere Straße. Es ist gegen 7 Uhr, als ich mit der Witwe abwärts zu unserer Wohnung schleiche, vorsichtig ums Treppengeländer sichernd. Horchend verhalten wir vor der eigenen Tür, die ich angelehnt ließ, als sie sich plötzlich von innen auftut.
Eine Uniform. Schreck. Die Witwe umkrallt meinen Arm. Aufatmen - es ist bloß Petka.
Sprachlos lauscht die Witwe unserem Gespräch. Aber nach einer Minute stehe auch ich sprachlos da. Denn Petka strahlt mich an, seine kleinen Blauaugen glitzern, er schüttelt mir die Hände, versichert, daß ihm die Zeit nach mir lang geworden sei, daß er gleich nach der Wache schnellstens zurückgekehrt sei und die ganze Wohnung nach mir abgesucht habe, daß er froh sei, so froh, mich wiederzusehen. Und er drückt und quetscht dabei meine Finger mit seinen Holzfällerpratzen, daß ich sie ihm entziehen muß. Ich stehe wie ein Idiot vor diesen unzweifelhaften Symptomen, höre mir das Romeogestammel an, bis Petka endlich, endlich entschwindet - mit dem Ver-sprechen, bald wiederzukommen, sehr bald, so schnell er eben kann.
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