»Sie — Sie!« stammelte Miß Andrew mit trockener Kehle. »Sie grausame, unhöfliche, unfreundliche, verdorbene, halsstarrige Person — wie konnten Sie nur, wie konnten Sie nur!«
Mary Poppins sah ihr fest ins Auge. Mit halbgeschlossenen Lidern starrte sie Miß Andrew eine Weile rachsüchtig an.
»Sie haben gesagt, ich verstünde es nicht, Kinder aufzuziehen«, sagte sie leise und deutlich.
Miß Andrew fuhr zurück. »En — entschuldigen Sie«, sagte sie.
»Ich sei unverschämt, unfähig und völlig unzuverlässig«, fuhr die ruhige, unbeugsame Stimme fort.
Miß Andrew duckte sich unter dem unverwandten Blick.
»Das war ein Irrtum. E — es tut mir leid«, stammelte sie.
»Ich sei eine >junge Dame
»Ich nehme es zurück«, keuchte Miß Andrew. »Ich nehme alles zurück. Bloß lassen Sie mich gehen. Mehr will ich gar nicht.« Sie faltete die
Hände und blickte Mary Poppins beschwörend an. »Ich kann nicht bleiben«, flüsterte sie. »Nein, nein! Hier nicht! Ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen!«
Mary Poppins warf ihr einen langen und nachdenklichen Blick zu. Dann machte sie eine kleine Bewegung mit der Hand. »Gehen Sie!«
Miß Andrew stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Oh, danke schön! Besten Dank!« Die Augen fest auf Mary Poppins geheftet, stolperte sie rückwärts die Stufen hinunter; dann machte sie kehrt und humpelte unsicher den Gartenpfad entlang.
Der Taxichauffeur, der die ganze Zeit über das Gepäck ausgeladen hatte, ließ gerade seinen Motor an und rüstete sich zur Abfahrt.
Miß Andrew hob eine zitternde Hand.
»Warten Sie!« rief sie mit gebrochener Stimme. »Warten Sie auf mich. Sie bekommen zehn Shilling Trinkgeld, wenn Sie mich gleich wieder wegfahren.«
Der Mann starrte sie an.
»Es ist mein Ernst!« sagte sie dringend. »Sehen Sie«, sie fummelte aufgeregt in ihrer Tasche, »hier sind sie. Stecken Sie sie ein — und fahren Sie los.«
Miß Andrew stolperte in das Taxi und fiel schwer auf den Sitz.
Der Fahrer, immer noch mit aufgerissenem Mund, schloß hinter ihr die Tür. Dann machte er sich eilig ans Wiederaufladen des Gepäcks. Robertson Ay war auf einem Stapel von Koffern eingeschlafen, doch der Fahrer nahm sich nicht erst die Zeit, ihn zu wecken. Er fegte ihn aufs Pflaster und beendete die Arbeit allein.
»Sieht aus, als hätte das alte Mädchen 'nen Nervenschock gekriegt! Hab noch nie jemand in solchem Zustand gesehn. Nie!« murmelte er in sich hinein, als er abfuhr.
Doch welcherart dieser Schock gewesen war, das ahnte der Taximann nicht; er hätte es auch nicht erraten können, selbst wenn er hundert Jahre alt geworden wäre . . .
»Wo ist denn Miß Andrew?« sagte Mistreß Banks, die auf der Suche nach ihrem Gast zur Haustür gerannt kam.
»Weg«, sagte Michael.
»Was meinst du mit — weg?« Mistreß Banks sah höchst überrascht aus.
»Sie hatte, scheint's, keine Lust zu bleiben«, sagte Jane.
Mistreß Banks runzelte die Stirn.
»Was soll das heißen, Mary Poppins?« erkundigte sie sich.
»Ich weiß es selbst nicht, Madam, bestimmt nicht«, sagte Mary Poppins ruhig, als ginge es sie gar nichts an. Sie blickte auf ihre neue Bluse und strich glättend über einen Kniff.
Mistreß Banks blickte von einem zum andern und schüttelte den Kopf.
»Höchst merkwürdig! Das versteh ich nicht.«
Da öffnete sich die Gartentür und fiel mit sanftem Klicken wieder ins Schloß. Auf Zehenspitzen kam Mister Banks angeschlichen. Als alle sich nach ihm umwandten, stutzte er und blieb nervös auf einem Fuß stehen.
»Na? Ist sie da?« erkundigte er sich, vor Angst flüsternd . . .
»Sie ist schon wieder weg«, antwortete Mistreß Banks.
Mister Banks war verblüfft.
»Weg? Meinst du wirklich weg? Miß Andrew?«
Mistreß Banks nickte.
»Hurra!« schrie Mister Banks, nahm die Zipfel seines Regenmantels in die Hände und begann mitten auf dem Gartenpfad einen Schottischen zu tanzen. Plötzlich machte er halt.
»Aber wieso? Wann? Warum?« fragte er.
»Eben jetzt — in einem Taxi. Weil die Kinder frech zu ihr waren, nehme ich an. Darüber beklagte sie sich bei mir. Ich kann es mir nicht anders erklären. Können Sie's, Mary Poppins?«
»Nein, Madam«, sagte Mary Poppins und bürstete sorgfältig ein Staubflöckchen von ihrer Bluse.
Mister Banks wandte sich vorwurfsvoll an Jane und Michael.
»Ihr wart frech zu Miß Andrew? Zu meiner Erzieherin? Dieser guten alten Seele? Ich schäme mich für euch beide — schäme mich gründlich.« Er sprach mit Strenge, doch seine Augen zwinkerten lustig.
»Ich bin ein geschlagener Mann«, fuhr er fort und steckte die Hände in die Taschen. »Da plage ich mich nun tagein, tagaus, um euch eine anständige Erziehung zu verschaffen, und wie dankt ihr's mir? Indem ihr frech seid zu Miß Andrew! Es ist eine Schande! Es ist ein Skandal! Ich weiß nicht, ob ich euch das jemals verzeihen kann. Aber . . .«, fügte er hinzu und holte zwei Sechspencestücke aus der Tasche, von denen er jedem feierlich eins reichte, »ich will es nach Kräften versuchen!« Und er wandte sich lächelnd ab.
»Hoppla!« rief er, über den Vogelkäfig stolpernd. »Wo kommt denn der her? Wem gehört er?«
Jane und Michael und Mary Poppins blieben stumm.
»Na, ist ja egal«, sagte Mister Banks. »Der gehört jetzt mir. Ich will ihn in den Garten stellen und meine Wicken daran hochziehen.«
Und damit ging er, fröhlich vor sich hin pfeifend, mit dem Käfig davon . . .
»So etwas«, sagte Mary Poppins streng, als sie den Kindern ins Kinderzimmer folgte. »Das ist mir ein schönes Benehmen, muß ich sagen. Den Gast eures Vaters so ruppig zu behandeln.«
»Wir waren nicht ruppig«, widersprach Michael. »Ich sagte bloß, sie wäre ein heiliger Schrecken, und er hat sie selbst so genannt.«
»Sie so wegzuschicken, nachdem sie gerade erst gekommen war — nennt ihr das etwa nicht ruppig?« fragte Mary Poppins.
»Aber wir waren's doch nicht«, sagte Jane. »Das warst du . . .«
»Ich war ruppig zu einem Gast eures Vaters?« Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Mary Poppins Jane wütend an. »Du wagst es, hier zu stehen und mir das zu erzählen?«
»Nein, nein! Du warst nicht ruppig, aber ...«
»Das wollt ich doch meinen«, entgegnete Mary Poppins, nahm den Hut ab und entfaltete ihre Schürze. »Ich bin gut erzogen!« fügte sie verschnupft hinzu, während sie schon die Zwillinge auszog.
Michael seufzte. Er wußte, es hatte keinen Zweck, mit Mary Poppins zu streiten. Er warf Jane einen Blick zu. Sie drehte ihr Sechspencestück in der Hand herum.
»Michael!« sagte sie. »Ich hab mir's eben überlegt.«
»Was?«
»Vati gab uns das Geld, weil er glaubte, wir hätten Miß Andrew weggeschickt.«
»Ich weiß.«
»Aber wir waren's doch nicht. Es war Mary Poppins!«
Michael scharrte mit den Füßen. »Du denkst also . . .«, begann er unbehaglich, in der Hoffnung, daß sie nicht das meinte, was er annahm.
»Natürlich«, nickte sie.
»Aber — aber, ich wollte meines doch ausgeben.«
»Ich auch. Aber es wäre nicht anständig. In Wirklichkeit gehört das Geld ihr.«
Michael überdachte die Angelegenheit eine Weile. Dann seufzte er.
»Na schön«, sagte er bedauernd und zog sein Sechspencestück aus der Tasche.
Miteinander traten sie vor Mary Poppins hin.
Jane streckte ihr die Münzen entgegen.
»Da, nimm!« sagte sie atemlos, »wir denken, du mußt sie bekommen.«
Mary Poppins nahm die Geldstücke und drehte sie in der Hand hin und her. Einmal lag der Kopf oben und einmal das Wappen. Dann fing ihr Auge den Blick der Kinder, und es schien ihnen, als dringe dieses Auge bis tief in ihre Herzen und sähe, was sie dachten. Lange Zeit stand sie so und starrte in Janes und Michaels Gedanken hinein.
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