»O Michael, ich muß mich wundern! Warst du frech zu Miß Andrew? Du mußt dich sofort entschuldigen.« Mistreß Banks wurde langsam merklich nervös und unsicher.
»Nein, Mutter, ich war nicht frech. Ich wollte nur . . .« Er begann zu erklären, aber Miß Andrews laute Stimme fiel ein.
»Er hat mich schwer beleidigt«, beteuerte sie. »Er muß sofort in eine Erziehungsanstalt geschickt werden. Und das Mädchen braucht eine Erzieherin. Ich selbst werde eine aussuchen. Und was die junge Person betrifft, die sie zur Zeit beaufsichtigt« — sie deutete mit einem Nicken auf Mary Poppins —, »der müssen Sie auf der Stelle kündigen. Sie ist frech, unfähig und völlig unzuverlässig.«
Mistreß Banks war sichtlich entsetzt. »Oh, Sie irren sich bestimmt, Miß Andrew! Wir halten sie geradezu für ein Juwel.«
»Davon verstehen Sie nichts. Ich irre mich nie! Kündigen Sie ihr!«
Miß Andrew fegte weiter über den Gartenpfad.
Mistreß Banks eilte hinter ihr her; sie sah sehr beunruhigt und aufgeregt aus.
»I — ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen, Miß Andrew!« versicherte sie höflich. Aber innerlich zweifelte sie schon daran.
»Hm. Mit dem Haus ist es nicht weit her«, entgegnete Miß Andrew. »Es ist in einem fürchterlichen Zustand. Überall fällt der Putz ab, er ist schon ganz bröcklig. Sie müssen einen Maurer holen lassen. Und werden diese Steinstufen hier jemals gewaschen? Sie sind reichlich dreckig.«
Mistreß Banks biß sich auf die Lippen. Miß Andrew verwandelte ihr reizendes, bequemes Haus in eine gemeine und schäbige Bude, und das machte sie sehr unglücklich.
»Sie werden morgen gescheuert«, sagte sie kleinlaut.
»Warum nicht heute?« fragte Miß Andrew. »Das wäre doch viel richtiger. Und warum ist Ihre Haustür weiß gestrichen? Dunkelbraun — so gehört sich's für eine Tür. Es ist billiger und läßt den Schmutz nicht so sehen. Sehen Sie nur diese Flecken!«
Sie setzte den runden Gegenstand nieder und deutete mit den Fingern auf die Flecken an der Haustür.
»Hier! Und hier! Und hier! Überall! Es ist eine Schande!«
»Ich werde sofort dafür sorgen . . . « , sagte Mistreß Banks schwach. »Wollen wir jetzt nicht nach oben in Ihr Zimmer gehen?«
Miß Andrew stampfte hinter ihr her in die Diele.
»Ich hoffe, es brennt ein Feuer im Kamin.«
»Gewiß doch. Ein schönes Feuerchen. Hier geht's entlang, Miß Andrew. Robertson Ay bringt Ihnen gleich Ihr Gepäck.«
»Schön, sagen Sie ihm aber, er soll vorsichtig damit umgehen. Die Koffer stecken voller Medizinflaschen. Ich muß sehr auf meine Gesundheit achten!« Miß Andrew bewegte sich auf die Treppe zu. Sie blickte in der Diele umher.
»Die Wände müssen neu tapeziert werden. Ich werde mit George darüber sprechen. Warum war er zu meiner Begrüßung nicht hier, das möcht ich gern wissen? Sehr unhöflich von ihm. Seine Manieren sind, wie ich sehe, nicht besser geworden.«
Die Stimme wurde ein bißchen leiser, als Miß Andrew Mistreß Banks die Treppe hinauf folgte. Von fern konnten die Kinder die schwache Stimme ihrer Mutter hören, die kleinlaut in alles einwilligte, was Miß Andrew wünschte.
Michael wandte sich an Jane.
»Wer ist George?« erkundigte er sich.
»Vati.«
»Aber der heißt doch Mister Banks.«
»Gewiß, aber sein Vorname ist George.«
Michael seufzte auf.
»Ein Monat ist eine schrecklich lange Zeit, Jane, wie?«
»Jawohl — vier Wochen und etwas mehr«, sagte Jane in dem Gefühl, daß ein Monat mit Miß Andrew ihr wie ein Jahr vorkommen würde.
Michael rückte näher.
»Hör mal. . .«, begann er ängstlich zu flüstern, »das kann sie doch nicht durchsetzen, daß Mary Poppins fortgeschickt wird, oder doch?«
»Nein, ich glaube nicht. Aber sie ist sehr merkwürdig. Ich wundere mich nicht mehr, daß Vati davonlief.«
»Merkwürdig!«
Das Wort knallte hinter ihrem Rücken wie ein Schuß.
Sie fuhren herum. Mary Poppins verfolgte Miß Andrew mit einem Blick, der sie hätte töten können.
»Merkwürdig!« wiederholte sie und zog nachdrücklich die Luft durch die Nase. »Das ist nicht die richtige Bezeichnung für sie. Hmpf! Ich versteh also nichts von Kindererziehung? Ich bin frech, unfähig und völlig unzuverlässig? Das werden wir ja sehen!«
Jane und Michael waren bei Mary Poppins an Drohungen gewöhnt, aber heute war ein Klang in ihrer Stimme, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatten. Sie starrten sie schweigend an und fragten sich, was nun wohl geschehen würde.
Ein zarter Laut, halb Seufzen, halb Pfeifen, schwang durch die Luft.
»Was war das?« fragte Jane rasch.
Der Laut kam wieder, diesmal ein bißchen deutlicher. Mary Poppins hob den Kopf und lauschte. Abermals ertönte ein leises Zirpen, anscheinend von der Türschwelle her.
»Aha!« rief Mary Poppins triumphierend. »Das hätt ich mir denken können!«
Und mit einer plötzlichen Bewegung sprang sie zu dem runden Gegenstand hin, den Miß Andrew hatte stehenlassen, und riß die Decke ab.
Darunter befand sich ein messingner Vogelkäfig, sehr sauber und glänzend. An dem einen Ende seiner Stange saß, in seine Flügel gekuschelt, ein hellbraunes Vögelchen. Es zwinkerte ein bißchen, als die Nachmittagssonne ihm in die Augen, fiel. Dann blickte es mit runden dunklen Augen besorgt rundum. Sein Blick fiel auf Mary Poppins, und in plötzlichem Wiedererkennen öffnete es den Schnabel und stieß ein trauriges, heiseres, kleines Zirpen aus. Jane und Michael hatten nie einen so unglücklichen Laut vernommen.
»Hat sie das wirklich getan? Ts-ts-ts! Was du nicht sagst!« nickte Mary Poppins ihm mitfühlend zu.
»I schirp — irrup!« zirpte der Vogel und schüttelte niedergeschlagen die Schwingen.
»Was? Zwei Jahre? In diesem Käfig? Sie soll sich was schämen!« sagte Mary Poppins zu dem Vögelchen, und ihr Gesicht wurde rot vor Ärger.
Die Kinder staunten. Der Vogel sprach in keiner ihnen bekannten Sprache, und dennoch unterhielt sich Mary Poppins mit ihm, als verstünde sie jedes Wort.
»Was sagt er ...?« begann Michael.
»Pst!« sagte Jane und kniff ihn, um ihn ruhig zu halten, in den Arm.
Sie starrten schweigend auf den Vogel. Er hüpfte auf seiner Stange ein wenig näher zu Mary Poppins hin und sang ein paar Töne mit leiser, fragender Stimme.
Mary Poppins nickte. »Ja, natürlich kenne ich das Feld. Hat sie dich dort gefangen?«
Der Vogel nickte. Dann schlug er ein paar rasche Triller, was sich wie eine Frage anhörte.
Mary Poppins dachte einen Augenblick nach. »Nein«, sagte sie. »Es ist nicht sehr weit. Du könntest es in einer Stunde schaffen. Wenn du von hier nach Süden fliegst.«
Der Vogel schien froh. Er hüpfte ein wenig auf seiner Stange und schlug aufgeregt mit den Flügeln. Dann ertönte sein Gesang aufs neue; ein Strom runder, klarer Töne entquoll seiner Kehle, während er Mary Poppins bittend ansah.
Sie wandte den Kopf und blickte vorsichtig die Treppe hinauf.
»Soll ich? Was hältst du davon? Hast du gehört, wie sie mich eine >junge Dame< nannte? Mich!?« Sie schnaubte verächtlich.
Die Schultern des Vogels zuckten, als lachte er.
Mary Poppins beugte sich nieder.
»Was machst du denn da, Mary Poppins?« rief Michael, unfähig, sich noch länger zu beherrschen. »Was ist das für ein Vogel?«
»Eine Lerche!« sagte Mary Poppins kurz und drehte den Riegel an der kleinen Tür. »Zum erstenmal seht ihr hier eine Lerche im Käfig — und zum letztenmal!« Bei diesen Worten flog die Tür des Käfigs auf. Flatternd entwischte die Lerche und ließ sich mit einem schrillen Schrei auf Mary Poppins' Schulter nieder.
»Hmpf!« sagte sie und wandte den Kopf. »So ist's doch besser, sollte ich meinen.«
»I schirr-rupp!« bestätigte die Lerche mit einem Nicken.
Читать дальше