»Na, dann mach, daß du wegkommst«, warnte Mary Poppins. »Sie wird gleich wieder da sein.«
Daraufhin ließ die Lerche ihrer Kehle eine Flut perlender Töne entströmen, winkte ihr mit den Flügeln zu und verbeugte sich wieder und immer wieder.
»Aber, aber«, brummte Mary Poppins. »Danke mir nicht. Es hat mir Spaß gemacht, das zu tun. Ich kann keine Lerche im Käfig sehen! Außerdem hast du ja gehört, wie sie mich genannt hat!«
Die Lerche warf den Kopf zurück und flatterte mit den Flügeln. Sie schien herzlich zu lachen. Dann legte sie den Kopf auf die Seite und lauschte.
»Ach, das hab ich ganz vergessen!« ertönte eine Trompetenstimme von oben. »Ich habe Caruso draußen gelassen. Auf diesen schmutzigen Stufen. Ich muß ihn holen.«
Miß Andrews schwerer Tritt dröhnte auf der Treppe.
»Was?« rief sie zurück, wohl als Antwort auf eine Frage von Mistreß Banks. »Ach, es ist meine Lerche, meine Lerche Caruso! Ich nenne sie so, weil sie früher ein so wunderbarer Sänger war. Was? Nein, sie singt jetzt nicht mehr, seit ich sie auf dem Feld gefangen und in einen Käfig gesteckt habe. Ich weiß gar nicht, warum.«
Die Stimme näherte sich und wurde im Näherkommen immer lauter.
»Bestimmt nicht!« rief sie zu Mistreß Banks zurück. »Ich hole sie selbst. Ich vertraue sie diesen frechen Kindern nicht an. Ihr Geländer müßte frisch poliert werden. Das sollte gleich geschehen.«
Trapp — trapp. Trapp — trapp. Feste Schritte dröhnten durch die Diele.
»Da kommt sie!« zischte Mary Poppins. »Fort mit dir!« Sie schüttelte ein wenig die Schulter.
»Schnell!« rief Michael angstvoll.
»Beeil dich!« drängte Jane.
Mit einer raschen Bewegung duckte die Lerche den Kopf und zupfte sich mit dem Schnabel eine Schwungfeder aus.
»Tschirr — tschirr — tschirr — irrup!« zwitscherte sie und steckte die Feder hinter das Band von Mary Poppins' Hut. Dann breitete sie die Flügel aus und schwang sich in die Luft.
Im gleichen Augenblick erschien Miß Andrews in der Tür.
»Was?« rief sie, als sie Jane und Michael und die Zwillinge erblickte. »Noch nicht im Bett? Das geht nicht! Alle gut erzogenen Kinder.. .«, sie blickte Mary Poppins vorwurfsvoll an, »sollten um fünf Uhr im Bett sein. Ich spreche bestimmt mit eurem Vater darüber.« Sie blickte sich um.
»Nun, laßt mal sehen. Wo habe ich meine . . .« Sie brach plötzlich ab. Der aufgedeckte Käfig mit seiner offenen Tür stand vor ihren Füßen. Sie starrte hinunter, als könnte sie ihren Augen nicht trauen.
»Wie? Wann? Wo? Was? Wer?« stammelte sie. Dann fand sie ihre volle Stimme wieder. »Wer hat die Decke abgenommen?« donnerte sie. Die Kinder zitterten bei diesem Getöse. »Wer hat den Käfig geöffnet?«
Keine Antwort.
»Wo ist meine Lerche?«
Immer noch blieb alles stumm; Miß Andrew starrte ein Kind nach dem andern an. Schließlich fiel ihr anklagender Blick auf Mary Poppins.
»Sie waren es!« brüllte sie und deutete mit ihrem großen Finger auf sie. »Das sehe ich Ihnen an der Nasenspitze an! Was unterstehen Sie sich! Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch heute nacht das Haus verlassen — mit Sack und Pack! Sie vorlaute, freche, unwürdige . . .«
»Tschirp — irrup!«
Aus der Luft kam ein kleiner Lachtriller. Miß Andrew blickte hoch. Die Lerche wiegte sich auf leichten Schwingen, dicht über den Sonnenblumen.
»Ach, Caruso — da bist du ja!« rief Miß Andrew. »Na, komm schon! Laß mich nicht warten. Komm zurück in deinen hübschen, sauberen Käfig, Caruso, und laß mich das Türchen schließen!«
Aber die Lerche blieb in der Luft hängen und ließ ihre Lachtriller steigen; sie warf den Kopf zurück und klatschte mit den Flügeln.
Miß Andrew bückte sich, ergriff den Käfig und hielt ihn hoch über ihren Kopf.
»Caruso — was hab ich gesagt? Sofort kommst du zurück!« befahl sie und schwang lockend den Käfig. Aber Caruso witschte daran vorbei und streifte Mary Poppins' Hut.
»Tschirp — irrup!« sagte er im Vorbeisausen.
»Ganz recht«, nickte Mary Poppins zur Antwort.
»Caruso, hast du gehört?« rief Miß Andrew. Aber schon klang eine leichte Bestürzung durch ihre Stimme. Sie setzte den Käfig hin und versuchte, die Lerche mit den Händen zu fangen. Doch die wich aus, flatterte an ihr vorbei und stieg mit einem Flügelschlag höher in den Himmel. Ein rasches Gezwitscher strömte zu Mary Poppins hernieder.
»Fertig!« rief sie zurück.
Und dann passierte etwas Seltsames.
Mary Poppins heftete ihre Augen auf Miß Andrew, und Miß Andrew, von dem merkwürdigen, dunklen Blick plötzlich gebannt, begann zu zittern. Sie tat einen kleinen Seufzer, stolperte unsicher vorwärts und stürzte schließlich in ungestümer Wut zum Käfig hin. Dann — wurde etwa Miß Andrew kleiner oder wuchs der Käfig? Jane und Michael hätten es nicht zu sagen vermocht. Sie wußten nur eines genau, daß sich nämlich die Käfigtür mit leisem Klicken hinter Miß Andrew schloß.
»Oh, oh, oh!« schrie sie, als die Lerche niederstieß und den Käfig am Tragring ergriff.
»Was ist los? Wohin soll ich denn?« schrie Miß Andrew, als sich der Käfig in die Luft erhob.
»Ich hab ja keinen Platz, mich zu bewegen! Ich kann kaum atmen!« rief sie.
»Caruso konnte es auch nicht!« sagte Mary Poppins ungerührt.
Miß Andrew rüttelte an den Stäben des Käfigs.
»Macht auf! Macht auf! Laßt mich 'raus, sag ich! Laßt mich 'raus!«
»Hmpf. Schwerlich«, sagte Mary Poppins mit leiser spöttischer Stimme.
Weiter und weiter flog die Lerche, höher und höher stieg sie mit fröhlichem Zwitschern. Und der schwere Käfig mit Miß Andrew darin schwankte, von der Vogelklaue herabbaumelnd, gefährlich in der Luft hin und her.
Durch den klaren Lerchengesang hindurch hörten sie Miß Andrew gegen die Käfigstäbe hämmern und schreien:
»Ich mit meiner guten Erziehung! Ich, die immer recht hatte! Ich, die sich niemals irrte. Mir muß so etwas passieren!«
Mary Poppins stieß ein seltsames, zufriedenes kleines Lachen aus.
Die Lerche sah jetzt schon ganz winzig aus, aber immer noch stieg sie kreisend höher und sang laut und triumphierend. Und immer noch kreisten Miß Andrew und ihr Käfig schwerfällig unter ihr, rollend und stampfend wie ein Schiff im Sturm.
»Laßt mich 'raus, sag ich! Laßt mich 'raus!« Kreischend tönte ihre Stimme durch die Luft.
Plötzlich änderte die Lerche ihre Richtung. Ihr Gesang verstummte einen Augenblick, als sie seitwärts abbog. Dann setzte er wieder ein, wild und klar, als sie, den Tragring des Käfigs aus den Klauen lassend, der Sonne zuflog.
»Weg ist sie!« sagte Mary Poppins.
»Wohin?« riefen Jane und Michael.
»Nach Hause — zu ihren Wiesen«, erwiderte sie und blickte hoch.
»Aber sie hat den Käfig fallen lassen!« sagte Michael und staunte.
Und dazu hatte er allen Grund, denn der Käfig kam jetzt herabgesaust, taumelnd und schwankend und sich immer wieder überschlagend. Sie konnten Miß Andrew deutlich erkennen; bald stand sie auf dem Kopf, bald auf den Füßen, je nachdem der Käfig sich in der Luft drehte. Tiefer, immer tiefer fiel er, schwer wie ein Stein, und schließlich landete er mit einem Plumps auf der obersten Treppenstufe.
Schäumend vor Wut stieß Miß Andrew die Tür auf. Und als sie herauskam, schien sie Jane und Michael ebenso groß wie zuvor und beinahe noch schrecklicher.
Einen Augenblick stand sie da, keuchend, unfähig zu sprechen, mit einem Gesicht, noch röter als zuvor.
»Wie können Sie es wagen!?« flüsterte sie heiser und deutete mit einem zitternden Finger auf Mary Poppins. Aber Jane und Michael entdeckten, daß ihre Augen nicht mehr zornig blickten, sondern angstvoll.
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