»Er kommt!« schnaufte Michael.
Plötzlich erschlaffte die Schnur; ein kleines wirbelndes Etwas schoß durch die graue Wolke und kam herabgesegelt.
»Winde die Schnur auf!« rief der Parkaufseher und warf Michael einen Blick zu.
Aber die Schnur wand sich schon von selbst um die Spule.
Langsam, ganz langsam kam der Drachen herunter, schlug Purzelbäume in der Luft und tanzte wild am Ende seiner zuckenden Schnur.
Jane japste plötzlich.
»Da ist etwas passiert!« schrie sie. »Das ist nicht unser Drachen. Es ist ein ganz anderer!«
Sie starrten hinauf.
Es war wirklich so. Der Drachen war nicht mehr gelbgrün. Er hatte die Farbe gewechselt und war jetzt marineblau. Er kam herunter, tanzend und hüpfend.
Plötzlich stieß Michael einen Schrei aus.
»Jane! Jane! Das ist gar kein Drachen. Es sieht aus wie — oh, es sieht aus wie —«
»Mach doch, Michael, schneller!« keuchte Jane. »Ich kann's kaum erwarten!«
Denn jetzt wurde über den höchsten Bäumen des Parkes das Gebilde am Ende der Drachenschnur deutlich. Keine Rede mehr von dem gelbgrünen Drachen! An seiner Stelle tanzte eine Gestalt, die ihnen bei aller Seltsamkeit dennoch bekannt vorkam, eine Gestalt, die einen blauen Mantel mit Silberknöpfen trug und einen mit Stiefmütterchen bekränzten Strohhut. Festgeklemmt unter dem Arm hatte sie einen Regenschirm mit einem Papageienkopf als Krücke; linker Hand baumelte eine braune
Plüschreisetasche, während die Rechte mit festem Griff das Ende der Drachenschnur hielt.
»Oh!« schrie Jane triumphierend. »Sie ist es!«
»Ich wußte es!« brüllte Michael; seine Hand zitterte beim raschen Aufwinden der Schnur.
»Seltsamer Vogel!« sagte der Parkaufseher und grinste. »Seltsamer Vogel!«
Immer näher segelte die merkwürdige Gestalt; ihre Füße streiften schon fast die Baumwipfel. Sie konnten jetzt ihr Gesicht erkennen und die wohlvertrauten Züge — kohlschwarzes Haar, blitzende blaue Augen und eine Stupsnase wie bei einer Holländerpuppe. Als das letzte Stückchen Schnur sich um die Spule legte, glitt die Gestalt zwischen den Lindenbäumen zu Boden und setzte sauber aufs Gras auf.
Mit einem Schwung warf Michael die Drachenschnur weg und rannte drauflos, Jane eilig hinterher.
»Mary Poppins, Mary Poppins!« schrien sie durcheinander und stürzten auf sie zu.
Hinter ihnen krähten die Zwillinge wie Hähne in der Morgenfrühe, und der Parkaufseher machte abwechselnd den Mund auf und zu, als wollte er etwas sagen, fände aber nicht die richtigen Worte.
»Endlich! Endlich! Endlich!« brüllte Michael wie wild; er umklammerte ihren Arm, ihre Reisetasche, ihren Regenschirm, kurz, alles, was sich nur anfassen ließ, um sich zu überzeugen, daß sie es wirklich und leibhaftig war.
»Wir wußten, du würdest wiederkommen! Wir fanden deinen Brief mit dem >au revoir< am Ende!« rief Jane und warf ihre Arme um den blauen Mantel.
Ein befriedigtes Lächeln zuckte für einen Augenblick über Mary Poppins' Gesicht — vom Mund her, über die Stupsnase bis in die blauen Augen. Aber rasch verschwand es wieder.
»Ich wäre dir dankbar«, bemerkte sie und befreite sich aus Janes Händen, »wenn du dich daran erinnern wolltest, daß dies hier ein öffentlicher Park ist und kein Affenhaus. Was für ein Benehmen! Bin ich denn im Zoo? Und wo sind, wenn ich fragen darf, eure Handschuhe?«
Die Kinder prallten zurück und gruben in ihren Taschen.
»Hm! Zieht sie an, bitte.«
Zitternd vor Freude und Aufregung stopften Jane und Michael ihre Hände in die Handschuhe und setzten ihre Hüte auf.
Mary Poppins trat auf den Kinderwagen zu. Die Zwillinge glucksten vergnügt, als sie sie fester einwickelte und die Decke geradezog. Dann blickte sie sich um.
»Wer hat die Ente in den Teich geworfen?« erkundigte sie sich mit der strengen, unnahbaren Stimme, die alle so gut kannten.
»Ich war's«, sagte Jane. »Wegen der Zwillinge. Die Ente schwamm nach New York.«
»Na, dann hol sie mal wieder her!« sagte Mary Poppins. »Sie schwimmt nicht nach New York — wo immer das sein mag —, sondern nach Hause zum Tee.«
Nachdem sie ihre Reisetasche über den Griff des Kinderwagens hatte gleiten lassen, begann sie, die Zwillinge nach dem Ausgang zu schieben.
Der Parkaufseher, der plötzlich seine Stimme wiedergefunden hatte, stellte sich ihr in den Weg.
»Hören Sie mal«, sagte er und glotzte. »Ich muß einen Bericht machen. Es ist gegen alle Vorschriften. Geradewegs vom Himmel zu fallen, so wie Sie! Und woher, möchte ich gern wissen, woher?«
Er brach ab, denn Mary Poppins blickte an ihm hinauf und hinunter, auf eine Art, daß er sich weit weg wünschte.
»Wenn ich Parkaufseher wäre«, bemerkte sie kurz, »würde ich meine Mütze aufsetzen und mir den Rock zuknöpfen. Entschuldigen Sie.«
Und ihn hochnäsig zur Seite fegend, schob sie den Kinderwagen an ihm vorüber.
Mit rotem Kopf bückte sich der Aufseher, um seine Mütze aufzuheben. Als er wieder aufblickte, waren Mary Poppins und die Kinder bereits durch das Tor von Kirschbaumweg Nummer siebzehn verschwunden.
Er blickte verdutzt auf den Weg. Dann starrte er zum Himmel empor und danach wieder auf den Weg.
Er nahm die Mütze ab, kratzte sich den Kopf und setzte sie wieder auf.
»So was hab ich noch nicht erlebt!« sagte er kopfschüttelnd. »Nicht mal als kleiner Junge!« Und vor sich hin murmelnd ging er verstört davon.
»Ei, das ist ja Mary Poppins!« sagte Mistreß Banks, als sie in die Diele traten. »Wo kommen Sie denn her? Aus blauem Himmel?«
»Jawohl«, begann Michael vergnügt, »sie kam herunter am Ende einer . . .«
Er brach plötzlich ab, denn Mary Poppins hatte ihm einen ihrer fürchterlichen Blicke zugeworfen.
»Ich fand sie im Park, Madam«, sagte sie, sich an Mistreß Banks wendend, »und so brachte ich sie nach Haus.«
»Sie sind also gekommen, um zu bleiben?«
»Vorläufig, Madam.«
»Aber als Sie das letztemal hier waren, Mary Poppins, haben Sie mich ohne ein Wort der Kündigung verlassen. Woher soll ich denn wissen, daß Sie es diesmal nicht wieder tun?«
»Das können Sie nicht«, entgegnete Mary Poppins ungerührt.
Mistreß Banks sah reichlich verdutzt aus.
»Aber — aber, wollen Sie denn wirklich?« fragte sie unsicher.
»Ich kann's nicht sagen, Madam, wirklich nicht.«
»Ach!« sagte Mistreß Banks, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Aber ehe sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, hatte Mary Poppins schon ihre Reisetasche ergriffen und drängte die Kinder die Treppe hinauf.
Mistreß Banks, die ihnen nachblickte, hörte, wie die Tür zum Kinderzimmer sich leise schloß. Mit einem Seufzer der Erleichterung lief sie ans Telefon.
»Mary Poppins ist zurückgekommen!« rief sie glücklich in den Hörer.
»Ach wirklich?« sagte Mister Banks am anderen Ende. »Dann komm ich vielleicht auch.«
Und er hängte ab.
Eine Treppe höher zog Mary Poppins ihren Mantel aus. Sie hängte ihn an einen Haken hinter der Tür zum Kinderschlafzimmer. Dann legte sie den Hut ab und setzte ihn ordentlich auf einen der Bettpfosten.
Jane und Michael verfolgten die vertrauten Bewegungen. Alles an ihr war genauso wie immer. Sie konnten kaum noch glauben, daß sie jemals weg gewesen war.
Mary Poppins bückte sich und öffnete die Reisetasche.
Mit Ausnahme eines großen Thermometers war sie völlig leer.
»Wozu ist denn das?« fragte Jane neugierig.
»Für dich«, sagte Mary Poppins.
»Aber ich bin doch nicht krank«, protestierte Jane. »Es ist zwei Monate her, daß ich die Masern hatte.«
»Mund auf!« sagte Mary Poppins mit einer Stimme, vor der Jane schleunigst die Augen schloß und den Mund aufsperrte. Das Thermometer glitt hinein.
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