
Elli erinnerte sich an Raminas Warnung. Die Erzgräber, hatte die Mäusekönigin gesagt, dulden es nicht, daß man sie beobachtet.
Der Mann auf dem Drachen zog einen langen Pfeil aus dem Köcher, den er auf dem Rücken trug.
»Vorsicht!« schrie Elli, warf sich zu Boden und riß den Seemann mit sich.
Wahrhaftig, keinen Augenblick zu früh: Schon schwirrte der Pfeil über ihre Köpfe hinweg, prallte gegen die Felswand des Ganges und zerbrach. Im nächsten Augenblick kam Totoschka, die Pfeilspitze zwischen den Zähnen, herbeigesprungen. Die scharfe Eisenspitze war so hart, daß sie trotz des Aufpralls unversehrt geblieben war.
»Bei allen Klippen und Sandbänken!« rief der Seemann. »Mit diesen unterirdischen Männern ist nicht gut Kirschen essen! Wenn es ihnen einfallen sollte, an die Oberfläche zu steigen, würde ich keinen Pfifferling für das Leben der Käuer oder der Zwinkerer geben! Doch wir wollen keine Zeit verlieren, laßt uns gehen!«
»Aber Onkel, wir haben uns ja noch nicht alles angeschaut, und der Mann ist ja auch schon fortgeflogen…«
»Fortgeflogen, sagst du? Hm, laß mal sehen.«
Der Seemann setzte die Mütze auf die Spitze seines Stocks und hob sie an die Öffnung. Im gleichen Augenblick wurde sie von einem gut gezielten Pfeil weggerissen.
»Na, hast du gesehen? Und was tun wir, wenn es dem Herrn einfällt, näher an unser Fenster heranzukommen?«
Hastig verließen die Fünf den gefährlichen Ort. Erst als sie sich außer Gefahr wußten, fingen sie wieder zu sprechen an.
»Tatsächlich, ein Land der Wunder!« sagte Charlie Black.
Dann ging er voraus, und die anderen folgten ihm.
Nach einer Weile kamen sie an eine große Tür, die fest verschlossen war.
WIEDERSEHEN MIT DEM SCHEUCH UND DEM EISERNEN HOLZFÄLLER
»Siehst du, nicht umsonst haben wir so viele Gefahren auf uns genommen!« rief Charlie Black erfreut aus. »Der Gang führt wirklich bis zum Turm!«
»Brech die Tür auf, Onkel Charlie«, schlug Elli vor.
»Das geht nicht«, erwiderte Charlie, »man könnte uns hören.«
Von draußen drangen der tiefe Baß eines hölzernen Unteroffiziers und die schrillen Stimmen der Polizisten zu ihnen.
Der Durchbruch mußte ohne Lärm geschehen. Charlie holte aus seinen Taschen das notwendige Werkzeug hervor, bohrte nebeneinander mehrere Löcher, erweiterte sie mit dem Messer und begann mit der Handsäge zu arbeiten. In einer halben Stunde hatte er eine viereckige Öffnung ausgesägt, durch die ein Mensch schlüpfen konnte.
»Elli«, sagte der Seemann, »geh jetzt hinauf und sag dem Scheuch und dem Holzfäller, daß wir da sind und auf sie warten. Aber sei vorsichtig, und auch die beiden sollen aufpassen, daß die Wache nichts merkt.«
»Und was geschieht mit Din Gior und Faramant?« fragte das Mädchen. »Wenn der Scheuch und der Eiserne Holzfäller fliehen, wird Urfin seinen Zorn an ihnen auslassen.«
Der Seemann kratzte sich den Nacken.
»Ja, da hast du recht, daran hab ich nicht gedacht. Aber was sollen wir denn tun?«
»Ich glaube, der Scheuch und der Holzfäller müssen hierbleiben, bis wir Din Gior und Faramant aus dem Kerker befreit haben. Aber wie wir’s tun sollen, weiß ich nicht. Vielleicht kann uns der Scheuch mit einer guten Idee helfen?«
»Richtig! Das Treppensteigen fällt mir zwar schwer, doch es bleibt uns nichts anderes übrig, wir müssen gemeinsam beraten.«
Elli stieg langsam die steile Treppe hinauf, hinkend folgte ihr Charlie.
Der Löwe blieb unten, denn das Loch in der Tür war für seinen mächtigen Körper zu klein.
Oben angekommen, schaute Elli vorsichtig in den Raum, wo sich ihre Freunde befanden. Sie legte den Zeigefinger an den Mund, womit sie den Freunden zu verstehen gab, daß sie sich ruhig verhalten sollten. Sie befürchtete nämlich, die beiden könnten bei ihrem Anblick in ein Jubelgeschrei ausbrechen.
Ihre Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet. Der Eiserne Holzfäller wußte sich schon seit jeher zu beherrschen, und dem Scheuch war der Karzer eine bittere Lehre gewesen. Von der Feuchtigkeit des unterirdischen Gelasses waren die Farben auf seinem Gesicht zerflossen, jetzt hörte und sah er schlecht und konnte nur im Flüsterton sprechen, was ihm in seiner jetztigen Lage übrigens gut zustatten kam!
Beim Anblick Ellis wollten ihr die beiden um den Hals fallen, doch sie hielten an sich, als sie hinter ihr den Seemann sahen. Obwohl sie ihn aus den Schilderungen der Krähe kannten, waren sie bei seinem Erscheinen doch etwas verlegen.
Charlie sagte ihnen freundlich guten Tag. Der Scheuch erwiderte seinen Gruß mit einem Kratzfuß, während der Holzfäller seinen Trichter lüftete und sich höflich verbeugte.
Kaggi-Karrs schwarze Äuglein leuchteten stolz. Ei, dachte sie, zeigt mir doch eine andere Krähe, die einen solchen Auftrag so glänzend auszuführen gewußt hätte!
Nach den herzlichen Begrüßungsworten begann Elli von Din Gior und Faramant zu sprechen.
»Was euch betrifft, so könntet ihr gleich jetzt durch den unterirdischen Gang fliehen. Aber dann wäre es um Din Gior und Faramant geschehen!«
Da rief der Holzfäller:
»Wenn sie unsretwegen umkommen, wird mir das Herz in der Brust zerspringen…«
Dabei fing er bitterlich zu weinen an. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und seine Kiefer rosteten sogleich ein. Verzweifelt schüttelte der eiserne Mann den Kopf, konnte aber kein Wort hervorbringen. Zum Glück stak die Ölkanne in seinem Gürtel. Der Scheuch zog sie heraus, um ihm die Kiefer zu schmieren, da er aber schlecht sah, troff das Öl in des Holzfällers Ohr. Es dauerte eine geraume Weile, bis die Kiefer geölt waren und der Holzfäller wieder sprechen konnte:
»Hör zu, Bruder Scheuch«, sagte er, »jetzt streng mal dein kluges Gehirn an und sag, was wir weiter tun sollen.«
Der Scheuch aber flüsterte kummervoll:
»Mit meinem klugen Gehirn klappt etwas nicht. Die Feuchtigkeit im Karzer…«
Kaggi-Karr unterbrach ihn:
»Faramant und Din Gior sitzen in einem Keller des Hinterhofs. Ich kann mich erinnern, daß vom Zimmer des Kochs ein Weg zu ihrem Fenster führt.«
»Das wäre ja großartig!« rief Charlie erfreut, hielt sich aber sogleich erschrocken den Mund zu. »Ich habe etwas, womit sich die beiden befreien könnten. Es fragt sich nur, wie das Ding zu ihnen kommt…«
Er kramte in seinem Rucksack und holte eine kleine Stahlsäge hervor.
»Damit kann man jedes Gitter durchsägen.«
»Ja, aber wie schaffen wir sie hin?« flüsterte der Scheuch. »Ach, wenn mein Gehirn doch nur wieder in Ordnung wäre… Mir kommt aber nichts in den Kopf, das ärgert mich zu Tode, es ist schrecklich…«
Elli umarmte den Strohmann und streichelte ihm über das verwaschene Gesicht.
»Mein Lieber, sei nicht traurig, ich werde für dich denken!«
Qualvolles Schweigen trat ein. Um in das Schloß zu kommen und die Häftlinge wenigstens durch das vergitterte Fenster zu sehen, mußte man den Turm verlassen. Vor der Tür standen aber Holzköpfe Wache, und der zweite Ausgang mündete in der unterirdischen Höhle, in der der Sechsfüßer hauste.
Wer würde es wagen, allein hinzugehen?
Die Lage schien ausweglos. Aber durften sie den braven Faramant und Din Gior ihrem Schicksal überlassen?
»Ich will den beiden die Säge bringen«, rief Kaggi-Karr, »mich können weder Wände noch Gitter aufhalten!«
Das war ein kluger Vorschlag. Kaggi-Karr konnte aber die Säge nicht im Schnabel halten, weil sie zu schwer war. Sie versuchte es mehrmals, ließ sie aber immer wieder fallen. Erneut begannen alle eifrig nachzudenken.
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