»Und du hast ihn oft gefahren, Henri.«
»Immer, wenn ich wollte.« Sie starrt ihn an.
»Jeden Tag zum Ausbildungslager?«
»Immer, wenn ich wollte, verdammt.« Ihr gleichgültiges, blasses Gesicht ist auf ihn gerichtet, und ihre Augen funkeln zornig.
»Kannst du dich an das letzte Mal erinnern, als du den Wagen gefahren hast? Wann war das, Henri?«
»Keine Ahnung. Bevor ich krank wurde.«
»Also bevor du die Grippe gekriegt hast. Und wann war das? Vor etwa zwei Wochen?«
»Ich weiß nicht.« Sie ist störrisch geworden und wird sich jetzt nicht mehr zum Thema Ferrari äußern. Er drängt sie nicht, denn ihr Leugnen und Ausweichen sprechen Bände.
Benton ist ziemlich gut darin, Schweigen zu interpretieren. Und sie hat gerade gesagt, dass sie den Ferrari gefahren hat, wann immer es ihr gefiel. Außerdem war sie sich dessen bewusst, dass sie damit Aufmerksamkeit erregte, und hatte Spaß daran, weil sie nur glücklich ist, wenn sie im Auge des Sturms steht. Selbst ohne eine Krise muss Henri im Zentrum des Chaos sein und Chaos erzeugen. Sie ist die Hauptdarstellerin in ihrem selbst verfassten wahnwitzigen Drama – ein Grund, warum die meisten Polizisten und forensischen Psychologen schlussfolgern würden, dass sie den Mordversuch an sich selbst nur vorgetäuscht und den Tatort dementsprechend präpariert und dass es nie einen Überfall gegeben hat. Aber es gab einen. Dieses bizarre und gefährliche Drama ist wirklich wahr, und Benton macht sich Sorgen um Lucy. Das tut er zwar schon immer, aber noch nie so sehr wie jetzt.
»Mit wem hast du telefoniert?«, kehrt Henri zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Rudy vermisst mich. Ich hätte es mit ihm machen sollen. Ich habe so viel Zeit dort verschwendet.«
»Fangen wir den Tag damit an, dass wir unsere Grenzen im Blick behalten, Henri«, wiederholt Benton geduldig, was er schon gestern Morgen und vorgestern Morgen gepredigt hat, während er sich auf dem Sofa Notizen machte.
»Okay«, erwidert sie, immer noch auf dem Treppenabsatz stehend. »Es war Rudy, der da angerufen hat. Ganz bestimmt.«
Wasser plätschert in Becken, und auf den Leuchttischen liegen Röntgenaufnahmen, als Scarpetta sich dicht über eine Schnittwunde beugt, die dem toten Traktorfahrer fast die Nase vom Gesicht getrennt hat.
»Ich würde einen Alkohol- und einen CO 2-Test an ihm durchführen«, meint sie zu Dr. Jack Fielding, der auf der anderen Seite der Bahre aus Edelstahl steht. Die Leiche liegt zwischen ihnen.
»Ist Ihnen was in dieser Richtung aufgefallen?«, fragt er.
»Ich rieche keinen Alkohol, und kirschrosa ist er auch nicht. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen. Ich sage Ihnen was: Bei Fällen wie diesem wittere ich buchstäblich den Ärger, Jack.«
Der Tote trägt noch seine olivgrüne Arbeitshose, die mit rotem Tonstaub bedeckt und an den Oberschenkeln aufgerissen ist. Körperfett, Muskeln und zerschmetterte Knochen lugen aus der aufgeplatzten Haut. Der Traktor hat seinen Körper in der Mitte überrollt. Es könnte eine Minute oder vielleicht fünf Minuten nachdem Scarpetta um die Ecke gebogen ist, passiert sein, denn sie ist sicher, dass der Mann, den sie gesehen hat, Mr. Whitby war. Obwohl sie versucht, ihn sich nicht lebend vorzustellen, steht er ihr etwa alle zwei Minuten vor Augen, wie er vor dem riesigen Reifen des Traktors am Motor herumhantiert.
»Hey«, ruft Fielding einem jungen Mann mit rasiertem Schädel zu, vermutlich ein Soldat des Toten-Bergungskommandos aus Fort Lee. »Wie heißen Sie?«
»Bailey, Sir.«
Scarpetta erkennt einige andere junge Männer in OP-Kleidung, mit Schuhhüllen, Kopfbedeckung, Gesichtsmasken und Handschuhen, vermutlich Praktikanten von der Army, die hier den Umgang mit Leichen erlernen sollen. Sie fragt sich, ob sie wohl in den Irak geschickt werden. Als sie die olivgrünen Armeeuniformhosen betrachtet, stellt sie fest, dass Mr. Whitbys zerrissene Arbeitshose dieselbe Farbe hat.
»Tun Sie dem Beerdigungsinstitut einen Gefallen, Bailey, und binden Sie die Karotidarterie ab«, brummt Fielding. Als er noch für Scarpetta gearbeitet hat, war er nicht so unfreundlich und hat seine Mitmenschen nicht lautstark herumkommandiert oder Fehler bei ihnen gesucht.
Dem Soldaten ist es sichtlich peinlich. Sein muskulöser, tätowierter Arm erstarrt mitten in der Bewegung, die Finger sind um eine lange, gebogene Nadel geschlossen, in die ein Faden Stärke 7 eingefädelt ist. Er hilft einem Assistenten, den Y-Schnitt nach einer Autopsie zuzunähen, die vor der Mitarbeitersitzung durchgeführt wurde, und es ist der Assistent, nicht der Soldat, der eigentlich wissen sollte, dass man die Arterie abbinden muss. Scarpetta hat Mitleid mit dem Soldaten, und wenn Fielding noch ihr Mitarbeiter wäre, würde sie ihn sich vorknöpfen, damit er sich in ihrem Leichenschauhaus einen deutlich höflicheren Ton angewöhnt.
»Ja, Sir«, sagt der junge Soldat. »Das wollte ich gerade tun, Sir.«
»Wirklich?«, fragt Fielding, und jeder im Leichenschauhaus kann hören, wie er den jungen Soldaten herunterputzt. »Wissen Sie, warum man die Karotidarterie abbindet?«
»Nein, Sir.«
»Aus Höflichkeit, das ist der Grund«, fährt Fielding fort. »Man bindet einen Faden um wichtige Blutgefäße wie die Karotidarterie, damit die Einbalsamierer im Beerdigungsinstitut nicht danach suchen müssen. Das gebietet der gute Ton, Bailey.«
»Ja, Sir.«
»Meine Güte«, stöhnt Fielding. »Ich muss mir das jeden Tag antun, weil er Gott und die Welt hier hereinlässt. Und sehen Sie ihn selbst irgendwo?« Er macht sich noch ein paar Notizen auf seinem Klemmbrett. »Seit vier Monaten ist er jetzt schon bei uns, ohne auch nur eine einzige Autopsie durchgeführt zu haben. Oh, und falls Sie noch nicht dahintergekommen sein sollten: Er lässt andere Leute gern warten. Das ist seine Lieblingsbeschäftigung. Anscheinend hat Ihnen noch niemand erzählt, welche Leichen er im Keller hat. Verzeihen Sie den Ausdruck.« Er weist auf die Leiche zwischen ihnen auf der Bahre. »Wenn Sie mich angerufen hätten, hätte ich Ihnen gleich gesagt, dass Sie sich die Mühe sparen können, herzukommen.«
»Ich hätte Sie wirklich anrufen sollen«, erwidert sie, während sie zusieht, wie fünf Leute mühsam eine monströs fette Frau von einer Bahre auf einen Edelstahltisch wuchten. Blutige Flüssigkeit tropft ihr aus Mund und Nase. »Das ist ja ein gewaltiger Pannikulus.« Scarpetta meint damit die Fettschürze, die bei Menschen, die so übergewichtig sind wie diese Frau, über den Bauch hängt. Doch in Wirklichkeit will sie das Thema wechseln, weil sie hier an diesem Ort, in seinem Leichenschauhaus und umgeben von seinen Mitarbeitern, ganz bestimmt keine Gespräche über Dr. Marcus führen wird.
»Tja, es ist mein gottverdammter Fall«, fährt Fielding fort, womit er auf Dr. Marcus und Gilly Paulsson anspielt. »Das Arschloch hat, verdammt nochmal, nicht einmal einen Fuß ins Leichenschauhaus gesetzt, als ihre Leiche eingeliefert wurde. Und das, obwohl jedermann wusste, dass es mit diesem Fall Ärger geben wird. Den ersten großen Ärger seiner Karriere. Ach, bitte schauen Sie mich nicht so an, Dr. Scarpetta.« Er würde nie aufhören, sie so zu nennen, obwohl sie ihm angeboten hatte, Kay zu ihr zu sagen, weil sie einander respektierten und sie ihn als Freund betrachtete. Aber er nahm das Angebot nicht an, als er noch für sie gearbeitet hat, und er wird es auch jetzt nicht tun. »Haben Sie heute Abend schon was vor?«
»Mit Ihnen, hoffe ich.« Sie hilft ihm, Mr. Whitby die schlammigen Arbeitsstiefel aus Leder auszuziehen, schnürt die schmutzigen Schuhbänder auf und klappt die schmuddelige Lederzunge heraus. Die Totenstarre ist noch nicht weit fortgeschritten; die Leiche ist noch beweglich und warm.
»Gut. Um sieben bei mir. Ich habe noch dieselbe Adresse. Aber sagen Sie, haben Sie eine Idee, wie es dieser Bursche geschafft hat, sich selbst zu überfahren?«, schiebt Fielding noch eine Frage nach.
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