Edwina fragte Tottenhoe: »Ist das Ködergeld unter den verschwundenen sechstausend Dollar?«
Der Innenleiter schüttelte den Kopf. »Nein. Das Ködergeld ist in Ordnung. Ich habe es geprüft.«
Also auch hier Fehlanzeige, überlegte Edwina.
Miles Eastin wandte sich noch einmal an die Kassiererin.
»Juanita, wenn Sie mal ganz genau überlegen, können Sie sich dann vorstellen, daß irgend jemand, irgendeiner das Geld aus Ihrem Fach genommen haben könnte?«
»Nein«, sagte Juanita Nünez.
Edwina beobachtete die junge Frau genau, als sie antwortete, und sie glaubte, so etwas wie Furcht zu entdecken. Grund genug hätte sie ja, denn bei einem Verlust in dieser Größenordnung gab so leicht keine Bank auf.
Edwina glaubte jetzt zu wissen, was mit dem verschwundenen Geld passiert war: Juanita Nunez hatte es gestohlen. Eine andere Erklärung war nicht möglich. Die Schwierigkeit bestand nur darin nachzuweisen, wie sie es gestohlen hatte.
Das wahrscheinlichste war, daß Juanita Nünez das Geld einem Komplicen einfach ausgezahlt hatte. Das wäre keinem Menschen aufgefallen. An einem Tag mit lebhaftem Kundenverkehr mußte es wie ein ganz routinemäßiger Auszahlungsvorgang gewirkt haben. Oder die junge Frau konnte das Geld am Körper versteckt und es während der Mittagspause aus der Bank hinausgeschmuggelt haben. Diese Methode war allerdings sehr viel riskanter.
Über eines mußte sich Mrs. Nünez allerdings im klaren gewesen sein, nämlich daß sie ihre Stellung verlieren würde, gleichgültig, ob ihr der Diebstahl nachgewiesen werden konnte oder nicht. Den Kassierern wurden gelegentliche BargeldUnstimmigkeiten zugestanden; Irrtümer beim Zählen waren normal und einkalkuliert. Im Laufe eines Jahres hatten die meisten Kassierer einen Durchschnitt von acht Mehr- oder Minderbeträgen. Wenn der Fehlbetrag die Summe von fünfundzwanzig Dollar nicht überschritt, sagte gewöhnlich kein Mensch etwas. Wem aber ein erheblicher Betrag fehlte, dem flatterte die Kündigung ins Haus; das wußte jeder Kassierer.
Es war natürlich denkbar, daß Juanita Nunez das einkalkuliert hatte. Vielleicht waren ihr sechstausend Dollar bar auf der Hand im Augenblick wichtiger als ihr Arbeitsplatz, auch wenn sie es später schwer haben würde, eine neue Anstellung zu finden. Wie dem auch gewesen sein mochte, Edwina tat die junge Frau leid. Sicher war es bei ihr ein Akt der Verzweiflung gewesen. Vielleicht hing ihre Notlage mit ihrem Kind zusammen.
»Ich glaube nicht, daß wir jetzt noch etwas tun können«, sagte Edwina zu der Gruppe. »Ich muß die Zentrale benachrichtigen. Sie wird dann die Untersuchungen weiterführen.«
Als die drei aufstanden, fügte sie hinzu: »Mrs. Nunez, bitte bleiben Sie.« Die junge Frau setzte sich wieder.
Als die anderen außer Hörweite waren, versuchte es Edwina noch einmal in einem ganz persönlichen Ton: »Juanita, ich meine, wir sollten jetzt ganz offen miteinander reden, wie zwei gute Freunde.« Sie hatte ihre anfängliche Ungeduld von sich geschoben. Sie spürte, wie die dunklen Augen der jungen Frau angespannt auf ihrem Gesicht ruhten.
»Zwei Dinge sind Ihnen gewiß längst klar. Erstens, daß es eine sehr gründliche Untersuchung geben wird; man wird das FBI einschalten, denn unsere Bank ist über die Grenzen unseres Bundesstaates hinaus versichert. Zweitens ist es ganz ausgeschlossen, daß man Sie nicht verdächtigen wird.« Edwina machte eine Pause. »Ich spreche in dieser Sache ganz offen. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe. Aber ich habe kein Geld genommen.«
Edwina fiel auf, daß die junge Frau noch immer nervös ihren Ehering herumdrehte.
Edwina überlegte sich jedes Wort, das sie jetzt sprach. Sie mußte auf jeden Fall eine direkte Beschuldigung umgehen; sonst könnten der Bank später juristische Schwierigkeiten entstehen.
»Wie lange die Untersuchung auch dauert, Juanita, es ist so gut wie sicher, daß die Wahrheit schließlich herauskommt; das ist eine alte Erfahrungstatsache. Die Ermittler sind gründlich. Sie geben nicht auf.«
Die junge Frau wiederholte, diesmal mit mehr Nachdruck: »Ich habe das Geld nicht genommen.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Aber eins möchte ich Ihnen ans Herz legen: Sollten Sie zufällig etwas wissen, was Sie noch nicht gesagt haben, dann sagen Sie es jetzt, dann sagen Sie es mir hier, wo wir in aller Ruhe beisammensitzen und uns unterhalten. Danach gibt es diese Chance nicht mehr. Dann ist es zu spät.«
Juanita Nünez schien etwas sagen zu wollen. Edwina hob eine Hand. »Nein, hören Sie mich erst zu Ende an. Ich gebe Ihnen ein Versprechen. Erhält die Bank das Geld zurück, sagen wir, bis morgen, dann wird es keine gerichtlichen Schritte, kein Strafverfahren geben. In aller Fairneß muß ich allerdings sagen, daß jemand, der diese Summe genommen hat, nicht mehr für unsere Bank arbeiten kann. Aber mehr würde auch nicht passieren. Das garantiere ich. Juanita, haben Sie mir irgend etwas zu sagen?«
»Nein, nein, nein! jTe lo juro por mi hija!« Die Augen der Kassiererin funkelten, ihr Gesicht hatte sich vor Zorn gerötet. »Ich sage Ihnen doch, ich habe kein Geld genommen, weder jetzt noch sonst irgendwann!«
Edwina seufzte.
»Gut, das war's dann fürs erste. Aber bitte verlassen Sie die Bank nicht, ohne mir vorher Bescheid zu geben.«
Juanita Nunez schien eine weitere hitzige Antwort auf der Zunge zu liegen, aber dann stand sie mit einem leichten Achselzucken auf und wandte sich zum Gehen.
Von ihrem erhöhten Schreibtisch aus ließ Edwina den Blick über das emsige Treiben rings um sie her schweifen. Das war ihre eigene kleine Welt, ihr persönlicher Verantwortungsbereich. Noch immer wurden die Transaktionen des Tages durchgerechnet und verbucht. Allerdings hatte eine erste Kontrolle bereits ergeben, daß kein Kassierer - wie man zunächst noch gehofft hatte - einen Überschußbetrag von sechstausend Dollar in seiner Kasse hatte.
Alles klang gedämpft in diesem modernen Bau - das Stimmengewirr, das Rascheln von Papieren, das Scheppern von Münzen, das Klicken und Rasseln der Rechenmaschinen. Einen Augenblick nahm sie das alles in sich auf, und plötzlich mußte sie denken, daß sie diese Woche aus zwei Gründen nicht so leicht vergessen würde. Dann erinnerte sie sich an ihre Pflicht. Sie hob einen Telefonhörer ab und wählte einen Hausanschluß.
»Sicherheitsabteilung«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Bitte Mr. Wainwright«, sagte Edwina.
Seit dem vergangenen Tag fiel es Nolan Wainwright schwer, sich auf die normale Alltagsarbeit in der Bank zu konzentrieren.
Den Chef der Sicherheitsabteilung hatte das Treffen am Dienstag morgen im Sitzungssaal tief berührt, nicht zuletzt deshalb, weil ihn im Laufe eines Jahrzehnts Freundschaft und gegenseitiger Respekt mit Ben Rosselli verbunden hatten.
So war es allerdings nicht immer gewesen.
Als er am Vortag vom Direktionsgeschoß in sein eigenes, bescheideneres Büro zurückgekehrt war, dessen Fenster auf einen Lichtschacht hinausgingen, hatte Wainwright seine Sekretärin gebeten, ihn vorläufig nicht zu stören. Dann hatte er sich niedergeschlagen an seinen Schreibtisch gesetzt, und seine Gedanken waren viele Jahre zurückgewandert, in die Zeit, da er zum ersten Mal mit Ben Rossellis Willen kollidiert war.
Zehn Jahre war das nun her. Nolan Wainwright war damals gerade zum Polizeichef einer kleinen Stadt im Norden des Bundesstaates ernannt worden. Davor war er Leutnant der Kriminalpolizei in einer Großstadt gewesen, wo er einen ausgezeichneten Ruf genossen hatte. Er war ohne Zweifel für einen Chefposten befähigt, und in dem allgemeinen Klima, das damals herrschte, konnte es sich für seine Kandidatur nur als nützlich erweisen, daß die Farbe seiner Haut Schwarz war.
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