1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Reid lachte und umarmte seine Tochter.
„Alles wird gut “, versicherte sie ihm.
„Bei euch auch“, sagte er. „Ich werde Mr. Thompson anrufen und ihn bitten, für eine Weile vorbeizukommen …“
„Dad, nein!“ Maya löste sich aus seiner Umarmung. „Komm schon. Ich bin sechzehn. Ich kann Sara ein paar Stunden lang allein beaufsichtigen.“
„Maya, du weißt, wie wichtig es mir ist, dass ihr zwei nicht alleine seid –“
„Dad, er riecht nach Motorenöl und alles, worüber er reden möchte, sind ‚die guten alten Zeiten’ bei der Marine“, sagte sie verärgert. „Es wird nichts passieren. Wir werden Pizza essen und einen Film gucken. Sara wird im Bett sein, bevor du zurückkommst. Wir kommen schon klar.“
„Ich denke trotzdem, dass Mr. Thompson kommen sollte, um –“
„Er kann uns wie gewohnt durch sein Fenster beobachten. Wir werden klarkommen. Das verspreche ich dir. Wir haben eine zuverlässige Alarmanlage und Sicherheitsriegel an allen Türen und ich weiß, dass du eine Waffe neben der Eingangstür hast und –“
„Maya!“, stieß Reid hervor. Woher wusste sie das? „Fass die bloß nicht an, hörst du?“
„Ich werde sie nicht anfassen“, sagte sie. „Ich sage ja nur. Ich weiß, dass sie da ist. Bitte. Lass mich beweisen, dass ich das kann.“
Reid mochte die Vorstellung ganz und gar nicht, dass die Mädchen alleine im Haus blieben, aber sie bettelte ihn förmlich an. „Erkläre mir den Fluchtplan“, sagte er.
„Das ganze Ding?!“, protestierte sie.
„Das ganze Ding.“
„Also gut.“ Sie warf ihr Haar über eine Schulter, wie sie es oft tat, wenn sie genervt war. Sie rollte ihren Blick zur Decke, während sie monoton den Plan wiederholte, den Reid kurz nach ihrer Ankunft im neuen Haus in Kraft gesetzt hatte. „Wenn jemand zur Haustür kommt, muss ich zuerst sicherstellen, dass der Alarm eingeschaltet ist, und dass die Verriegelungen und die Kette an der Tür verschlossen sind. Dann prüfe ich durch den Spion, ob es jemand ist, den ich kenne. Wenn nicht, rufe ich Mr. Thompson an und lasse ihn zuerst nachforschen.“
„Und wenn doch?“, forderte er.
„Wenn es jemand ist, den ich kenne“, sprach Maya weiter, „dann sehe ich am Seitenfenster nach, ob jemand anderes dabei ist. Und wenn es so ist, rufe ich Mr. Thompson an, um nachzuschauen.“
„Und wenn jemand versucht, gewaltsam einzudringen?“
„Dann gehen wir hinunter in den Keller und den Trainingsraum“, sagte sie. Eine der ersten Renovierungsarbeiten, die Reid nach ihrem Einzug vorgenommen hatte, bestand darin, die Tür zu dem kleinen Raum im Untergeschoss durch eine Tür mit Stahlkern zu ersetzen. Sie hatte drei schwere Riegel und Scharniere aus Aluminiumlegierungen. Sie war kugelsicher und feuerfest und der CIA-Techniker, der sie eingebaut hatte, behauptete, man bräuchte ein dutzend Sondereinsatz-Rammböcke, um dort durchzukommen. Der kleine Fitnessraum wurde dadurch zu einem behelfsmäßigen Panikraum.
„Und dann?“, fragte er.
„Dann rufen wir zuerst Mr. Thompson an“, sagte sie. „Und dann Eins-Eins-Null. Wenn wir unsere Handys vergessen haben oder nicht an sie rankommen, dann gibt es im Keller ein Festnetztelefon, in dem seine Nummer eingespeichert ist.“
„Und wenn jemand einbricht und ihr nicht in den Keller kommt?“
„Dann gehen wir zum nächsten verfügbaren Ausgang“, leierte Maya weiter. „Sobald wir draußen sind, machen wir so viel Lärm wie möglich.“
Thompson war eine Menge Dinge, aber schwerhörig war er nicht. Eines Abends hatten Reid und die Mädchen den Fernseher zu laut gestellt, als sie einen Actionfilm sahen und Thompson war hinübergerannt, als er ein Geräusch gehört hatte, das er für unterdrückte Schüsse hielt.
„Aber wir sollten immer unsere Handys bei uns haben, nur für den Fall, dass wir einen Anruf tätigen müssen, sobald wir uns an einen sicheren Ort begeben haben.“
Reid nickte zustimmend. Sie hatte den gesamten Plan wiederholt – bis auf einen kleinen und doch entscheidenden Teil. „Du hast etwas vergessen.“
„Nein, das habe ich nicht.“ Sie runzelte die Stirn.
„Sobald ihr an einem sicheren Ort seid und nachdem ihr Thompson und die Behörden angerufen habt, …?“
„Oh, richtig. Dann rufen wir dich sofort an und erzählen dir, was passiert ist.“
„Okay.“
„Okay?“ Maya hob eine Augenbraue. „Meinst du mit okay, dass du uns ausnahmsweise einmal alleinlassen wirst?“
Er mochte den Gedanken immer noch nicht. Aber es war nur für ein paar Stunden und Thompson war gleich nebenan. „Ja“, sagte er endlich.
Maya atmete erleichtert auf. “Danke. Alles wird gut, ich schwöre es.“ Sie umarmte ihn noch einmal kurz. Als sie sich umdrehte, um wieder nach unten zu gehen, fiel ihr noch etwas anderes ein. „Kann ich dir nur noch eine Frage stellen?“
„Sicher. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich sie beantworten werde.“
„Wirst du wieder anfangen … zu reisen?“
„Oh.“ Schon wieder war er von ihrer Frage überrascht. Die CIA hatte ihm seinen alten Job wieder angeboten – tatsächlich hatte der Direktor der National Intelligence selbst gefordert, dass Kent Steele seinen Dienst fortführen sollte – aber Reid hatte sich bis jetzt noch nicht dazu geäußert und die Behörden hatten noch keine Antwort von ihm gefordert. Meistens versuchte er zu vermeiden, überhaupt darüber nachzudenken.
„Ich … würde wirklich gern Nein sagen. Aber die Wahrheit ist, dass ich es noch nicht weiß. Ich habe mich noch nicht entschieden.“ Er hielt für einen Moment inne, bevor er fragte: „Was würdest du dazu sagen?“
„Du fragst nach meiner Meinung?“, fragte sie überrascht.
„Ja, das tue ich. Du bist ehrlich gesagt einer der klügsten Menschen, die ich kenne, und deine Meinung bedeutet mir sehr viel.“
„Ich meine … einerseits ist es ziemlich cool, jetzt da ich weiß, was ich weiß –“
„Da du denkst , was du weißt …“, korrigierte Reid.
„Aber es ist auch ziemlich beängstigend. Ich weiß, dass eine sehr reale Chance besteht, dass du verletzt werden könntest, oder … oder sogar schlimmer.“ Maya verstummte für eine Weile. „Gefällt es dir? Für sie zu arbeiten?“
Reid antwortete ihr nicht sofort. Sie hatte recht; die Tortur, die er durchgemacht hatte, war furchterregend gewesen und hatte sein Leben mehr als einmal gefährdet, genau wie die Leben seiner Mädchen. Er könnte es nicht ertragen, wenn ihnen etwas zustoßen würde. Aber die brutale Wahrheit – und einer der größeren Gründe, weshalb er sich in letzter Zeit versuchte, so sehr abzulenken – war, dass es ihm Spaß machte und er es vermisste. Kent Steele sehnte sich nach der Verfolgungsjagd. Es gab eine Zeit, als all dies begann, zu der er diesen Teil von sich wie eine andere Person betrachtete, aber das stimmte nicht. Kent Steele war ein Pseudonym. Er sehnte sich danach. Er vermisste es. Es war ein Teil von ihm, so, wie auch das Unterrichten und die Erziehung seiner beiden Mädchen ein Teil von ihm waren. Obwohl seine Erinnerungen verschwommen waren, war es ein Teil seines großen Ganzen, seiner Identität, und es nicht zu haben war, so als sei er ein Sportler, der sich eine karrierebeendende Verletzung zugezogen hatte: es warf die Frage auf, Wer bin ich überhaupt, wenn ich das nicht sein kann?
Er musste ihre Frage nicht beantworten. Maya konnte es in seinem geistesabwesenden Blick erkennen.
„Wie heißt sie noch mal?“, fragte sie plötzlich, um das Thema zu wechseln.
Reid lächelte verlegen. „Maria.“
„Maria“, sagte sie nachdenklich. „Also gut. Viel Spaß bei deinem Date.“ Maya ging die Treppe hinunter.
Bevor er ihr folgte, hatte Reid eine kleine Idee. Er öffnete die oberste Schublade der Kommode und kramte im hinteren Teil herum, bis er fand, wonach er gesucht hatte – eine alte Flasche teuren Rasierwassers, das er seit über zwei Jahren nicht mehr benutzt hatte. Es war Kates Lieblingsduft gewesen. Er roch daran und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Es war ein vertrauter, moschusartiger Duft, welcher eine Flut guter Erinnerungen mit sich brachte. Er sprühte ein wenig auf seine Handgelenke und betupfte beide Seiten seines Halses. Der Geruch war stärker, als er es in Erinnerung hatte, aber dennoch angenehm.
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