Mutter, ich bete zu Gott, dass du mich verstehst, wenn du diese Zeilen liest.
Kann mich vor Schwäche kaum noch auf den Beinen halten. Spüre, wie das Leben meinen Körper verlässt. Jenen, die dieses Buch finden, kann ich nur noch einen letzten Wunsch hinterlassen: Meiden Sie den Lac Tele, wahren Sie sein Geheimnis, und erzählen Sie niemandem davon. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, auch wenn es ihm schwer fallen wird, das zu akzeptieren.
Emily Palmbridge
»Das war der letzte Eintrag.« Eine atemlose Pause trat ein, als Elieshi das Buch zuschlug.
»Mein Gott, was hat sie getan?«, murmelte ich, während ich mich bemühte, den Eintrag zu verstehen. Plötzlich fühlte ich mich von dem Körper, den ich in den Armen hielt, abgestoßen. »Sie hat diese Männer da draußen umgebracht«, schüttelte ich den Kopf. »Was ist nur geschehen, dass sie sich so verändert hat?«
Elieshi sah mich mit einem schwer zu deutenden Blick an. »Emily Palmbridge schien in jeder Hinsicht ein extremer Charakter gewesen zu sein, Sie haben das bloß nicht erkannt. Oder Sie haben es nicht erkennen wollen, wie man's nimmt. Tatsache ist, dass sie ein anderer Mensch war als die Traumfigur, mit der Sie die letzten zwanzig Jahre verbracht haben. Ich bedauere, dass sie tot ist, aber das hätte auch nichts daran geändert, dass Ihre Jugendschwärmerei eine Illusion gewesen war. Hätten Sie sie noch einmal lebend treffen können, es wäre eine Begegnung mit einer Fremden gewesen. Im Zweifelsfall hätten Sie sich kaum etwas zu sagen gehabt.«
Ich wischte mir übers Gesicht. »Sie haben Recht. Ich war ein Idiot.«
»Nun, das nicht gerade«, ein schmales Lächeln spielte um ihren Mund. »Vielleicht nur ein hoffnungsloser Romantiker. Und das ist etwas sehr Schönes, finde ich. Eines aber ist merkwürdig.«
»Hm?«
Elieshi stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Dieses Labor hier und die lange Zeit, die sie hier verbracht hat, all das passt nicht zu dem ursprünglichen Plan.«
»Wovon sprechen Sie?« Ich war immer noch ganz benommen und fand erst nach und nach die Kraft, mich auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie stark sich Emily Palmbridges Ansichten geändert haben? Die Aussagen hier in diesem Tagebuch ...«, sie hielt es in die Luft, »... stehen in diametralem Gegensatz zu den erklärten Zielen der Expedition. Sie scheint sich gegen ihre eigene Mutter gewandt zu haben. Geplant war doch, Mokeles Erbmaterial zu sammeln, damit heimzukehren und die gewonnenen Erkenntnisse in das Human Genome Pro-ject einzubinden. Sehe ich das richtig?«
»So ungefähr.« Langsam dämmerte mir, worauf Elies-hi hinauswollte. »Vielleicht hat sie entdeckt, was wir entdeckt haben. Dass es sich bei Mokele nicht nur um eine neue Art, sondern um einen Sprung in der Evolution handelt? Wäre doch möglich.«
Elieshi schüttelte entschieden den Kopf. »Diese Erkenntnis allein hätte doch eine Frau wie Emily Palmbridge nicht umgestimmt. Im Gegenteil. Sie hätte die Unvereinbarkeit seiner und unserer DNS in einen Sieg verwandelt, indem sie sich die alleinigen Forschungsrechte an ihm gesichert hätte. Nicht auszudenken, was man aus Mokeles Erbgut alles hätte lernen können. Nein ...«, sie zögerte. »Sie muss noch etwas anderes entdeckt haben. Etwas, auf das wir bisher noch nicht gestoßen sind. Etwas, was so außergewöhnlich ist, dass sie ihrer eigenen Mutter nicht mehr vertraut hat. Erinnern Sie sich an die Worte im Tagebuch?Sie sind etwas Besonderes. Sie haben eine Gabe, die wir nicht verstehen ... Wenn ich den Menschen nur hätte zeigen können, was sie mir gezeigt haben.« Elieshi lehnte sich zurück und sah mich mit einem schwer zu deutenden Blick an. »Sagen Sie bloß, Sie haben sich nichts dabei gedacht, als Sie das gehört haben.«
»Um ehrlich zu sein: Nein. Ich war mit meinen Gedanken woanders. Aber Sie haben Recht, dieser Abschnitt ist merkwürdig. Wer sind >sie< und von welchen >Fähigkeiten< ist hier die Rede?«
»Darüber, wer >sie< sind, dürfte es eigentlich keine Unklarheiten mehr geben, aber was ihre >Fähigkeiten< betrifft, da tappe ich genauso im Dunkeln wie Sie. Doch auch der letzte Satz ist seltsam:Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, auch wenn es ihm schwer fällt, das zu begreifen.«
Ich stand auf und rieb mir die Arme. Erst jetzt fiel mir auf, wie kühl es hier unten war. »Keine Ahnung, was sie damit gemeint haben könnte. Vielleicht war sie doch nicht mehr so klar bei Verstand, als sie das schrieb.«
Elieshi blätterte nachdenklich in dem Tagebuch. »Oh doch, das war sie. Sie wollte nur nicht preisgeben, was sie entdeckt hatte, und die Leute, die dieses Buch finden, nicht unnötig neugierig machen.«
»Wir können uns ja mal umsehen«, schlug ich vor. »Vielleicht finden wir etwas, was uns weiterhilft, obwohl ich nicht allzu optimistisch bin. Sie hat geschrieben, dass sie alle Dokumente vernichtet hätte. Trotzdem, einen Versuch ist es wert.«
Wir durchforsteten alle Notizen und sämtliche Datenbanken des Computers, aber es war so, wie ich befürchtet hatte. Mit einer an Wahnsinn grenzenden Gründlichkeit waren sämtliche Spuren, die Licht in die Erkenntnisse der Palmbridge-Expedition hätten bringen können, gelöscht worden. Papiere, Daten, selbst die Objektträger, auf denen sich Mokeles Blut befunden haben mochte, waren vernichtet worden. Emily hatte sie in einer Petrischale mit Öl Übergossen und verbrannt.
»Es hat keinen Zweck«, gab ich nach einer halben Stunde unumwunden zu. »Emily hat wirklich gründlich gearbeitet. Die wenigen Informationen, die noch lesbar sind, sagen gar nichts. Es könnte sich dabei genauso um
Forschungsergebnisse über die kongolesische Sumpfkröte handeln.«
»Abgesehen von der Tatsache, dass es ein solches Tier nicht gibt.« In Elieshis Gesicht spiegelte sich Enttäuschung. »Und was sollen wir jetzt Ihrer Meinung nach tun?«
»Die Frage ist: Was können wir tun? Ich fürchte, wir haben nicht viel in der Hand. In Anbetracht unserer prekären Lage würde ich vorschlagen, nichts zu unternehmen.«
»Nichts? Wie meinen Sie das? Sollen wir hier alles so stehen und liegen lassen?«
Ich nickte. »Wie sollen wir die Sachen denn transportieren? Aber ich würde Emily gerne neben ihren Begleitern beerdigen. Ich glaube, das hätte ihr gefallen.«
»Und dann?«
Ich zuckte die Schultern. »Dann, finde ich, sollten wir Emilys letzten Wunsch respektieren und vergessen, was wir hier gesehen haben.«
Elieshi blickte mich ungläubig an. »Und die Erforschung von Mokele jemand anderem überlassen?«
Ich zuckte die Schultern. »Bedenken Sie doch mal unsere Lage. Wir sind schwer angeschlagen, Sixpence kam zu Tode, und unser Flugzeug ist ein Trümmerhaufen. Mokele ist gereizt und wird wieder angreifen. Wir müssen hier verschwinden. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, aber wir sind am Ende.«
Elieshi kickte einen Stein zur Seite. »Verdammt logisch argumentiert, Herr Professor, das muss ich Ihnen lassen. Es gefällt mir zwar nicht, aber ich kann es nicht ändern.« Sie ließ die Schultern hängen. »Immerhin bleibt uns ja noch eine Hoffnung. Wenn wir es schaffen, unser Geheimnis für uns zu behalten, haben wir vielleicht die Möglichkeit, eines Tages, zurückzukehren. Auf jeden Fall sind wir dann besser vorbereitet.« Mir fiel auf, dass sie von ihren eigenen Worten nicht überzeugt zu sein schien, aber ich schwieg. Sie klammerte sich an den letzten Hoffnungsschimmer, und den wollte ich ihr nicht nehmen.
Elieshi warf noch einen letzten enttäuschten Blick auf das Schlaflager, dann sagte sie: »In Ordnung. Begraben wir Emily. Das hat sie verdient. Danach verschließen wir diesen Tempel wieder, und dann nichts wie nach Hause.«
A ls wir nach einem dreistündigen Fußmarsch endlich die vertrauten Zelte vor uns aus dem regennassen Buschwerk auftauchen sahen, waren meine Beine schwer wie Blei. Doch so mühsam der Marsch auch gewesen war, er hatte mir geholfen, mir über einiges klar zu werden. In den zurückliegenden Stunden hatte ich genügend Zeit gehabt, um Abschied zu nehmen und um zu dem Schluss zu gelangen, dass ich jahrelang in einer riesengroßen Seifenblase gelebt hatte. Aber damit würde nun Schluss sein. Ich wollte nach Hause. Ich wollte Sarah in meine Arme nehmen und ihr sagen, was für ein Idiot ich gewesen war. Und ich wollte mich bei ihr entschuldigen und ihr versprechen, dass nun alles besser werden würde.
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