»Hast du eigentlich schon mal ein Mädchen geküsst?« Die Frage traf mich wie ein Blitzschlag. Sie kam einfach so, aus heiterem Himmel. Ich erinnerte mich, wie heiß mir damals wurde, und das lag nicht an der Maisonne, die auf uns herabstach. Natürlich hatte ich noch nie ein Mädchen geküsst, wie auch. Doch das einzugestehen war mir schwer gefallen. Anstatt zu antworten, hatte ich nur stumm den Kopf geschüttelt.
»Möchtest du gerne?«
Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich die Frage verneint oder bejaht hatte. Wahrscheinlich hatte ich nur stumm dagesessen, völlig gelähmt, wie die Maus vor der Katze, und hatte abgewartet. Emily hatte mich prüfend angesehen, und dann, noch ehe ich aufstehen und wegrennen konnte, hatte sie ihre Lippen auf meinen Mund gedrückt. Ich erinnerte mich an diesen ersten Kuss, als hätte ich ihn erst gestern erhalten. Es war ein Gefühl gewesen, als regneten tausend Sterne auf mich herab. Niemals, nicht in tausend Jahren, würde ich diesen Augenblick vergessen.
Ich seufzte.
»Ist sie nicht wundervoll?«, erklang Lady Palmbridges Stimme neben meinem Ohr. Ich zuckte zurück, denn ich hatte sie nicht kommen gehört.
»Verzeihen Sie, ich wollte sie nicht erschrecken, aber sie waren so versunken in die Bilder, dass sie mein Kommen wohl gar nicht bemerkt haben.«
»Ich habe gerade eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen«, gestand ich freimütig.
»Oh, das Gefühl kenne ich«, lächelte meine Gastgeberin. »Trösten Sie sich. Wenn Sie erst mein Alter erreicht haben, werden Sie noch viel häufiger in der Vergangenheit schwelgen. Darf ich Ihnen als Entschuldigung einen '69er Amontillado anbieten?«
»Sehr gern«, antwortete ich.
»Wie gefällt Ihnen Ihr Zimmer?«
»Es ist fabelhaft, Madam. Wie das ganze Anwesen ... Es erinnert mich an Ihr altes Haus in Hever. Die Erinnerung daran hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis geprägt.«
»Ach ja, das alte Hever. Waren Sie noch einmal dort seit Ronalds Tod?«
»Nein. Ich habe das Haus verkauft. Es war so voller Erinnerungen, dass es mich fast erdrückt hat. Und sagen Sie selbst, was soll ich mit einem solchen Besitz anfangen? Ich bin für das Stadtleben geboren. Ich habe mir von dem Geld eine schöne Eigentumswohnung gekauft, in der ich sehr glücklich bin.«
»Verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich halte es für einen Fehler, dass Sie das Haus verkauft haben«, sagte Lady Palmbridge und gab mir mein Glas. »Glauben Sie mir, je älter man wird, desto mehr zieht es einen zu den Wurzeln der Kindheit zurück. Das werden Sie noch merken. Warum wohl haben mein Mann und ich dieses Gebäude nach den alten Plänen bauen lassen? Wir hatten gehofft, hier wieder Wurzeln zu schlagen, aber soll ich Ihnen etwas sagen? Es geht nicht! Nichts und niemand wird Ihnen den Ort Ihrer Jugend je wiedergeben können.«
Damit hob sie ihr Glas, und wir stießen an. In diesem Moment erklangen Stimmen im Foyer. Offensichtlich waren die beiden anderen Gäste eingetroffen. Die Tür öffnete sich, und die beiden Australier betraten den Raum. Beide trugen sie tadellos sitzende Anzüge, doch schien sich zumindest Sixpence in seinem ebenso unwohl zu fühlen wie ich mich in meinem. Ich musste mir bei ihrem Anblick ein Grinsen verkneifen, sahen die beiden doch aus, als wären sie einer Erzählung von John Rider Haggard entsprungen. Auch wenn meine Skepsis Maloney gegenüber sich nicht gelegt hatte, war ich doch neugierig zu erfahren, was diese beiden so unterschiedlichen Menschen zusammengebracht hatte.
»Kommen Sie herein«, sagte Lady Palmbridge mit gewohnt fester Stimme, und ich begann mich zu fragen, wie sie wohl geklungen hatte, als sie noch im Vollbesitz ihrer Kräfte war. »Aston, schenken Sie den Herren ein, was immer sie möchten. Ich hoffe, Sie haben etwas Appetit mitgebracht, denn Miranda, meine Köchin, hat sich für Sie etwas besonders Köstliches einfallen lassen.«
»Ich bin hungrig wie ein Bär«, lachte Maloney und winkte ab, als ihm Aston einen Sherry anbot. »Nicht für mich, mein Freund, vielen Dank«, sagte er zu dem Butler, der bereits eingeschenkt hatte und vor Erstaunen über die Abweisung die Augenbrauen hochzog. »Ich wäre gern noch nüchtern, wenn wir den Grund für unsere Einladung erfahren. Mein Kompliment, Lady Palmbridge, die Zimmer sind fantastisch. Ich hatte mir nicht träumen lassen, dass ich mich in unmittelbarer Nähe zum Meer so wohl fühlen könnte. Wo ich doch eine alte Landratte bin.«
»Wo genau liegt eigentlich Leigh Creek?«, hakte ich nach.
»Im Süden, am Fuße des North Flinders Range.« Als er mein ausdrucksloses Gesicht sah, fragte er: »Wissen Sie, wo Adelaide liegt?«
»So ungefähr.«
»Leigh Creek befindet sich etwa dreihundert Meilen nördlich davon. Eine wilde, unberührte Gegend. Mit sanften Hügeln, dichten Wäldern und fischreichen Flüssen. Dahinter beginnt das Outback, die große endlose Leere .«
»Euch mag es ja leer erscheinen«, warf Sixpence ein, »aber für uns ist es voller Träume und Erinnerungen.«
»Dann kennen Sie die alten Geschichten?«, fragte ich und fügte erläuternd hinzu: »Ich habe Bruce ChatwinsTraumpfade gelesen und muss gestehen, dass ich seither fasziniert davon bin.«
Sixpence ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Jeder Abo kennt diese Geschichten. Wir tragen sie in uns.«
»Woher stammt eigentlich Ihr Name?«, fragte ich ihn. »Er ist ungewöhnlich, finde ich.«
Sixpence lächelte, doch irgendetwas in seinem Gesicht sagte mir, dass das Thema ihn belastete. »Das ist der Preis, für den meine Mutter mich an die Maloneys verkauft hat«, antwortete er. »Sechs Pennys und eine Flasche Whisky, dass war alles, was Stewarts Vater im Handschuhfach des Wagens hatte, doch das hatte für den Deal gereicht. Wahrscheinlich hätte sogar nur die Flasche gereicht, aber ich bin dankbar, dass er noch etwas Kleingeld dabeihatte, sonst würde ich heute Whisky heißen. Ich war damals noch ein Baby und meine Mutter Alkoholikerin. Wie so viele meines Volkes«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu.
»Eine traurige Geschichte«, ergänzte Maloney und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Ich war noch ein Dreikäsehoch, keine acht Jahre alt, als mein Vater ihn von den Feldern mitbrachte«, sagte er. »Ich war damals ein Außenseiter in der Familie. Die Schafzucht interessierte mich einen Dreck, und ich hatte mich von meinen Eltern und Geschwistern isoliert. Doch in Sixpence entdeckte ich eine verwandte Seele.
Ich kümmerte mich um ihn wie um einen Bruder. Er wurde mein bester Freund und ständiger Begleiter. Heute wüsste ich nicht, was ich ohne ihn täte.« Er lächelte ihm freundschaftlich zu. Ich wunderte mich, wie offenherzig Maloney über seine Vergangenheit sprach. Diese Ehrlichkeit und seine tiefe Verbundenheit zu dem Abo-rigine ließen ihn auf einmal in einem anderen Licht erscheinen.
Während Sixpence dem Butler das Sherryglas abnahm, das dieser immer noch ratlos in der Hand hielt, wies Maloney auf die Waffen. »Eine hübsche Sammlung haben Sie da, Mylady«, konstatierte er mit fachkundigem Auge. »Besonders diese Muskete hat es mir angetan. Eine echte Enfield, Kaliber 16,5 mm, nicht wahr? Haben Sie damit gejagt?«
»Wo denken Sie hin!«, antwortete sie. »In meiner Jugend war ich zwar an einigen Fuchsjagden beteiligt, aber das war's auch schon. Ich und mein Mann waren immer bestrebt, Leben zu schaffen, statt es auszulöschen. Trotzdem hege ich eine gewisse sentimentale Neigung zu diesen Waffen. Sie erinnern mich, wie so vieles in diesem Haus, an meine Heimat.«
»Dann erübrigt sich wohl die Frage, ob ich Ihnen die Enfield abkaufen kann.«
In diesem Moment läutete Aston die Glocke.
»Es ist serviert.«
D as Dinner war vorzüglich. Miranda, eine Frau, der man ansah, dass sie auch selbst mochte, was sie am Herd zauberte, hatte ein wunderbares Menü zusammengestellt. Einer getrüffelten Gänseleber und einer geeisten Gurkensuppe waren ein Babysteinbutt auf chinesischem Gemüse sowie eine gefüllte Lammkeule mit grünem Spargel gefolgt. Begleitet wurden diese Delikatessen von exquisiten französischen Weiß- und Rotweinen, die ich bisher nur vom Hörensagen kannte. Als ich schon glaubte, keinen Bissen mehr essen zu können, fuhr Miranda einen Schokoladenfächer mit Orangene-onfit auf, zu dem ein vollmundiger Tokajer gereicht wurde.
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