Victorias Gesellschaft würde sich komisch anfühlen, aber ich ging nicht davon aus, dass mich ihre Anwesenheit stören würde. »Sie kennt sich mit Computern aus, nehme ich an. Das muss man wohl heutzutage, wenn man als Detektiv arbeitet«, sagte ich.
»Redest du immer noch von Victoria? Ich denke schon«, sagte Tolliver. »Sie hat einen Techniker erwähnt, der stundenweise für sie arbeitet.«
Ich lag da und dachte nach, während Tolliver aufstand, duschte und sich anzog.
Plötzlich fand ich Victoria Flores deutlich interessanter. Ich fragte mich, ob sie das vermisste Baby finden würde. Das Baby, von dem wir nicht einmal wussten, ob es überhaupt existierte. Ob Mariah Parish nun ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte oder nicht, sollte mich eigentlich kaltlassen. Aber ich ertappte mich dabei, dass ich den Joyces wünschte, es zu finden. Ich hatte so den Verdacht, dass es nicht von ihrem Großvater war. Andererseits: Wenn die beiden Enkelinnen so schnell zu dem Schluss gekommen waren, dass Richard Joyce ein Kind mit seiner Pflegerin gehabt hatte, war das Baby vielleicht doch von ihm. Aber Lizzie und Katie hatten nicht in dieselbe Richtung geschaut wie ich, nachdem ich ihnen Mariah Parishs Todesursache genannt hatte. Ich hatte ihren Bruder und Lizzies Freund angesehen, die beide verdammt beunruhigt gewirkt hatten. Warum, wusste ich auch nicht und würde es wahrscheinlich niemals erfahren. Aber Victoria hoffentlich schon.
Vielleicht hatten beide Sex mit Richards Pflegerin gehabt. Vielleicht hatte sie einer von beiden geschwängert. Oder aber sie hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie geholfen hatten, das Baby zu verscharren oder zur Adoption freizugeben.
Egal, was der Bruder – Drexell hieß er, glaube ich – getan hatte: Es ging mich nichts an. Dasselbe galt für die Suche nach dem Parish-Baby, so etwas lag schließlich nicht in meinem Kompetenzbereich. Außer, das Baby war tot. Ich überlegte, Victoria vorzuschlagen, nach einem toten Kind Ausschau zu halten. Aber Kleinkinder sind am schwierigsten. Sie haben so leise Stimmchen. Wenn sie mit ihren Eltern begraben sind, hört man sie besser.
Ich verscheuchte den Gedanken an das Kind, das höchstwahrscheinlich tot war, um die lebenden Kinder abzuholen, mit denen wir verwandt waren. Beide Mädchen rannten uns entgegen, als wir in der Auffahrt der Gorhams hielten. Sie wirkten glücklich, schienen sich auf den Nachmittag zu freuen.
»Ich habe eine Eins im Diktat bekommen«, sagte Gracie. Tolliver lobte sie, und ich lächelte. Aber als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich Mariella neben ihr auf dem Rücksitz. Sie schwieg und wirkte ein wenig bedrückt.
»Was ist, Mariella?«, fragte ich.
»Nichts«, sagte sie, was eindeutig gelogen war.
Gracie sagte: »Mariella muss nachsitzen und hat eine Strafarbeit bekommen.«
»Warum denn, Mariella?«, fragte ich sachlich.
»Der Direktor hat mir vorgeworfen, die Klasse aufgewiegelt zu haben.« Mariella wich meinen Blicken aus.
»Und, stimmt das?«
»Es war diese Lindsay.«
»Lindsay tyrannisiert alle«, sagte Gracie. »Dabei müssen wir uns von niemandem tyrannisieren lassen, stimmt’s? So etwas tut man nicht.« Gracie wirkte selbstbewusst, aber auch selbstgerecht.
Ich wollte, dass sie einen Moment schwieg. »Wir reden später darüber«, sagte ich, woraufhin sich Mariella etwas zu entspannen schien. Ich war solche Probleme nicht gewohnt. Ich war Kinder nicht gewohnt. Aber ich erinnerte mich, dass so etwas in Mariellas Alter ein Riesendrama gewesen war.
Als wir die Eisbahn erreichten, sah mich Tolliver fragend an, und ich wies mit dem Kinn auf Gracie. »Komm schon, Gracie, lass uns die Schlittschuhe holen«, sagte er, woraufhin sie fröhlich aus dem Auto hüpfte, seine Hand nahm und mit ihm auf die Anlage zuging.
Mariella stieg ebenfalls aus, und wir folgten ihnen langsam.
»Erzähl mir davon«, schlug ich vor.
Wie erwartet, war es keine große Sache: Lindsay hatte eine gehässige Bemerkung gegenüber Mariella gemacht. Dass sie bloß adoptiert wäre und ihr Vater im Gefängnis säße. Mariella hatte Lindsay einen Magenschwinger versetzt, was meiner Meinung nach völlig angemessen war. Aus Sicht des Direktors hätte sie allerdings weinen und sich bei der Lehrerin beschweren sollen. Mir gefiel Mariellas Reaktion besser. Das brachte mich in eine Zwickmühle. Sollte ich auf meinen Bauch hören oder die Position der Schule vertreten? Wäre ich die Mutter gewesen, hätte ich vielleicht eine Antwort gewusst. Aber so holte ich nur tief Luft und bemühte mich um die richtigen Worte.
»Das war wirklich gemein von Lindsay«, sagte ich. »Du kannst schließlich nichts für deinen Vater.«
Mariella nickte, und ihre Kiefer mahlten. Ich kam nicht umhin festzustellen, dass sie große Ähnlichkeit mit Matthew hatte.
»Genau das habe ich dem Direktor auch gesagt«, meinte Mariella. »Mom hat mir dazu geraten. Das hätte ich auch Lindsay sagen sollen. Aber sie hat mich dermaßen verletzt.«
Iona stieg in meiner Achtung. Sie hatte Mariella gut auf die Grausamkeiten anderer Kinder vorbereitet. »Wahrscheinlich wäre ich an deiner Stelle auch auf Lindsay losgegangen«, sagte ich. »Andererseits: Wenn man jemanden schlägt, gibt es Ärger.«
»Man soll sich also nicht prügeln?«
»Es gibt bessere Möglichkeiten, Probleme zu lösen«, zog ich mich aus der Affäre. »Wie hättest du dich noch verhalten können?« Das erschien mir ausreichend einfühlsam.
»Ich hätte der Lehrerin Bescheid sagen können«, meinte Mariella. »Aber dann hätte ich ihr von meinem richtigen Vater erzählen müssen und sie hätte mich so komisch angesehen.«
»Stimmt.« Hmmmm.
»Ich hätte weggehen können, aber dann hätte Lindsay wieder von vorn angefangen.«
»Auch wahr.« Mariella war verständiger, als ich gedacht hatte. Und sie genoss es, mit jemandem zu reden, der nicht sagte, dass Gott sämtliche Probleme lösen würde.
»Ich hätte … mir fällt nichts mehr ein.« Meine Schwester sah mich erwartungsvoll an.
»Mir auch nicht. Du hast einfach impulsiv reagiert und hast jetzt das Nachsehen. Und was ist mit Lindsay passiert?«
»Sie muss vier Stunden nachsitzen, weil sie mich gemobbt hat«, sagte Mariella.
»Aber das ist doch gut, oder?«
»Ja. Aber noch besser wäre es, wenn sie den Mund gehalten hätte.«
Wow. Was für eine Kämpferin! »Da hast du auch wieder recht. Es ist schließlich nicht deine Schuld, dass dein leiblicher Vater Drogen nimmt. Und das weißt du auch. Aber diese Kinder haben keine Ahnung davon, wie es ist, Eltern zu haben, die böse Dinge tun. Diese Kinder haben Glück, wollen aber einfach nicht verstehen, dass du nicht darüber reden möchtest. Sie wissen instinktiv, dass sie dich damit ärgern können. Und wenn sie dich ärgern wollen, kommen sie als Erstes damit an.« Ich atmete tief durch. »Ich kenne das, Mariella. Als du noch ganz klein warst, ist Tolliver und mir genau dasselbe passiert. Jeder an der Schule wusste, wie schlimm unsere Eltern waren.«
»Sogar die Lehrer?«
»Keine Ahnung, wie viel sie wussten. Aber die anderen Kinder wussten Bescheid. Manche von ihnen haben Drogen in unserem Wohnwagen gekauft.«
»Sie haben dich also auch gehänselt?«
»Ja, einige. Andere waren genauso böse wie Mom und Dad. Sie nahmen Drogen und so.«
»Und hatten Sex?«
»Das auch. Aber die Kinder, die meinten, wir wären genauso wie unsere Eltern, kannten uns einfach nicht. Wir hatten Freunde, die es besser wussten.« Nicht sehr viele, aber ein paar hat es schon gegeben.
»Hattest du einen Freund?«
Puh! Sie hatte noch nicht mal ihre Periode, oder? Ich geriet fast ein bisschen in Panik. »Ja, ich habe mich mit Jungs verabredet. Aber nie mit solchen, die sofort Sex wollten. Je zurückhaltender du bist, desto besser ist dein Ruf. Weil man weiß, dass du noch …«
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