Matthew, Mutters zweiten Mann, aber x-ten »Freund«, konnte sie nicht ausstehen. Cameron hing der Illusion an, dass unser Vater eines Tages wieder er selbst würde – zu dem Menschen, der er vor seiner Drogensucht gewesen war. Sie glaubte, dass er eines Tages vor dem heruntergekommenen Wohnwagen stehen und uns mitnehmen würde. Dann würden wir wieder in einem richtigen Haus leben, und andere würden unsere Kleider waschen und das Essen kochen. Unser Vater würde zu Lehrersprechstunden kommen und am Abendbrottisch mit uns besprechen, auf welches College wir gehen könnten.
Das war Camerons Fantasie, ihre positive Fantasie. Sie hatte auch düstere Fantasien, ziemlich düstere. Eines Morgens erzählte sie mir auf dem Schulweg, dass sie sich ausgemalt habe, einer der Dealer unserer Mutter würde in unserer Abwesenheit vor dem Wohnwagen auftauchen, unsere Mutter und unseren Stiefvater umbringen. Anschließend würden wir zu einer netten Pflegefamilie kommen, nach der Highschool einen guten Job finden, eine Wohnung mieten und studieren.
So hatten Camerons Träume ausgesehen. Was sie sich wohl für die Zeit danach vorgestellt hatte? Hätten wir alle einen netten, wohlhabenden Mann kennengelernt und würden jetzt glücklich und zufrieden mit ihm zusammen sein bis an unser Lebensende? Oder wären wir für immer in unserer bescheidenen, aber ordentlichen Wohnung geblieben, hätten unsere neuen Sachen getragen (ein wesentlicher Bestandteil von Camerons Träumen) und das gute Essen genossen, das wir inzwischen zubereiten konnten?
»Schatz?«, sagte Tolliver. Ich drehte mich verblüfft zu ihm um. So hatte er mich noch nie genannt.
»Möchtest du ein Dessert?«, fragte er. Ich merkte, dass die Kellnerin wartete und angestrengt lächelte, um uns zu zeigen, wie unglaublich geduldig sie war.
Ich aß so gut wie nie ein Dessert. »Nein, danke«, sagte ich. Doch zu allem Überfluss musste Mark einen Pie bestellen, und Tolliver leistete ihm Gesellschaft, indem er einen Kaffe nahm. Ich wäre gern gegangen und konnte es kaum erwarten, meinen Erinnerungen zu entfliehen. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, suchte eine bequemere Position und unterdrückte ein Seufzen.
Als Tolliver und Mark anfingen, über Computer zu reden, konnte ich wieder meinen eigenen Gedanken nachhängen.
Aber alles, woran ich denken konnte, war Cameron.
3
Als wir wieder in unserem Motelzimmer waren, wollten wir beide nicht über Marks dummen Vorschlag reden, wieder Kontakt zu seinem und Tollivers Vater aufzunehmen. Tolliver fuhr den Laptop hoch und besuchte die Fanseite, die meine Aktivitäten vermerkt. Er sieht sie sich regelmäßig an, aus Angst, ich könnte einen verrückten Stalker haben. Ich selbst schaue sie mir nie an, da ich Post von Typen bekomme, die alle möglichen Sachen mit mir machen wollen, was ich gruselig, um nicht zu sagen widerlich finde. Jetzt hatte ich Angst, Matthew könnte sie im selben Moment aufrufen wie Tolliver. Er würde nach Mitteln und Wegen Ausschau halten, seinen Sohn zu finden.
Ein bohrender Schmerz mischte sich in meine Sorgen.
Ich suchte in meiner Medikamententasche nach der ABC-Salbe, um mein rechtes Bein damit einzureiben. Dort spüre ich die Nachwirkungen des Blitzschlags am meisten. Ich zog meine Schuhe und meine Jeans aus, setzte mich aufs Bett und dehnte die schmerzenden Muskeln und Gelenke. Mein rechter Oberschenkel ist von einem Muster aus roten Linien bedeckt – geplatzte Äderchen oder so. Und zwar seitdem ich mit fünfzehn vom Blitz getroffen wurde. Schön ist das nicht.
Ich ließ die Salbe einziehen und versuchte, meine Muskeln zu lockern. Nach einer mehrminütigen Massage ließ der Schmerz etwas nach. Ich lehnte mich zurück in die Kissen und befahl jeder Muskelgruppe, sich nacheinander zu entspannen. Ich schloss die Augen. »Ich bin lieber draußen in einem Schneesturm, als mich mit Iona und Hank zu unterhalten«, sagte ich. »Manchmal finde ich es genauso anstrengend, mit Mark zu reden.«
»Gestern Abend bei Iona …«, sagte Tolliver, verstummte und sprach dann mit großer Vorsicht weiter. »Da hat mich Hank beiseite genommen, als du im Bad warst, und gefragt, ob du schwanger bist.«
»Das ist nicht dein Ernst!«
»Oh doch, und ob. So nach dem Motto: ›Wenn du sie geschwängert hast, heiratest du sie auch, mein Junge. Wer austeilt, muss auch einstecken können.‹«
»Na, das sind ja tolle Aussichten, was Ehe und Vaterschaft anbelangt.«
Tolliver lachte. »Nun, derselbe Mann bezeichnet Iona auch als Klotz am Bein.«
»Ob wir nun heiraten oder nicht, ist mir egal«, sagte ich, bevor ich merkte, dass das keine sehr taktvolle Formulierung war. »Es ist mir natürlich nicht egal«, schob ich hastig hinterher. »Ich meine, ich liebe dich und möchte einfach nur mit dir zusammen sein. Egal, ob wir nun verheiratet sind oder nicht. Mist, jetzt habe ich mich schon wieder falsch ausgedrückt.«
»Wenn die Zeit dafür gekommen ist, tun wir, was sich gehört«, sagte Tolliver völlig ungerührt.
Anscheinend wollte er tatsächlich heiraten. Warum sagte er es dann nicht einfach? Ich schlug die Hände vors Gesicht, was ein merkwürdiges Gefühl hinterließ, da sie noch von der ABC-Salbe brannten.
Natürlich würde ich ihn heiraten, erst recht, wenn davon unsere Beziehung abhing. Ich würde alles tun, um ihn zu halten.
Das war keine romantische Erkenntnis. Ich lag da und dachte nach, hörte zu, wie Tolliver auf die Tastatur einhackte. Wenn ihm irgendetwas zustößt, kann ich genauso gut sterben , dachte ich. Ich fragte mich, was das wohl über Tolliver aussagte und was über mich.
Es klopfte an unserer Tür. Wir sahen uns verwirrt an. Tolliver schüttelte den Kopf, auch er erwartete niemanden.
Er stand auf und zog den Vorhang ein Stück beiseite. Dann ließ er ihn wieder los. »Es ist Lizzie Joyce«, sagte er. »Zusammen mit ihrer Schwester. Sie heißt Kate, oder?«
»Ja.« Ich war genauso überrascht wie er. »Was soll’s!«, sagte ich. Wir zuckten beide die Achseln.
Da Tolliver beschlossen hatte, dass sie weder bewaffnet noch gefährlich waren, ließ er die Joyce-Schwestern herein. Ich zog meine Jeans wieder an und stand auf, um sie zu begrüßen.
Anscheinend hatten sie noch nie ein Durchschnittsmotel von innen gesehen. Katie und Lizzie musterten den Raum mit beinahe identischen Blicken. Die Schwestern ähnelten sich sehr. Kate war ein wenig kleiner als Lizzie und vielleicht zwei Jahre jünger. Aber sie hatte die gleichen blond gefärbten Haare, die gleichen schmalen braunen Augen und die gleiche schlanke Figur. Beide trugen Jeans, Stiefel und Jacketts. Lizzie hatte ihre Haare zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz gebunden, während Katies offen waren. Wenn man alle Ketten, Ohrringe und Ringe zusammennahm, trug jede von ihnen bestimmt Schmuck im Wert von mehreren tausend Dollar. (Nach einem späteren Besuch bei einem Juwelier korrigierte ich diesen Betrag noch nach oben.)
Katie musterte Tolliver mit begierigen Blicken. Was den Rest anging, war sie weitaus weniger begeistert. Das betraf unsere Klamotten, sein Kreuzworträtselheft, seinen aufgeklappten Laptop und seine ordentlich neben dem Koffer platzierten Schuhe.
»Hallo, Ms Joyce«, sagte ich und versuchte, etwas Wärme in meine Stimme zu legen. »Was kann ich für Sie tun?«
»Sie können mir noch einmal erzählen, was Sie auf Mariah Parishs Grab gesehen haben.«
Ich brauchte eine Sekunde, bis es Klick machte. »Sie sprechen von der Pflegerin Ihres Vaters«, sagte ich. »Die mit der Infektion, die im Kindbett starb.«
»Ja. Warum behaupten Sie das? Sie hatte einen Blinddarmdurchbruch«, sagte Lizzie. Sie wirkte leicht aggressiv.
Ach, du meine Güte. Was ging mich das an? »Wenn Sie es so bezeichnen wollen, bitte sehr«, sagte ich. Mir war das egal. Außerdem war ich nicht dafür bezahlt worden, mit Mariah Parish Kontakt aufzunehmen.
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