Auch Amparo stellte sich diese Frage, aber sie war zu stolz, um sie auszusprechen.
Jaime führte sie in die an die Hotelhalle anschließende Bar und wählte einen Tisch in der hintersten Ecke.
Als der Ober kam, bestellte Jaime ein Glas Rotwein.
»Eines?«
»Eines.«
Amparo sah zu, wie Jaime ein Papierbriefchen aus der Tasche holte und auseinanderfaltete. Es enthielt ein feines weißes Pulver.
»Jaime.« Amparos Stimme klang verzweifelt. »Hör mir bitte zu! Versuch zu verstehen, weshalb ich’s getan habe. Du spaltest unser ganzes Land. Deine Sache ist aussichtslos. Dieser Wahnsinn muss aufhören!«
Der Ober kam zurück und stellte das Glas Rotwein auf den Tisch. Als er gegangen war, kippte Jaime den Inhalt des Papierbriefchens in den Wein, in dem das Pulver sich sofort auflöste. Er schob Amparo das Weinglas hin.
»Trink«, befahl er ihr.
»Nein!«
»Nur wenige von uns genießen das Vorrecht, sich ihre Todesart aussuchen zu dürfen«, stellte Jaime ruhig fest. »Diese ist rasch und schmerzlos. Fällst du meinen Leuten in die Hände, kann ich dir nichts dergleichen versprechen.«
»Jaime, ich. ich habe dich geliebt. Du musst mir glauben. Bitte.«
»Trink aus!« Seine Stimme klang unversöhnlich.
Amparo starrte ihn lange an, bevor sie entschlossen nach dem Weinglas griff. »Ich trinke auf deinen Tod.«
Er sah zu, wie sie das Glas an die Lippen setzte und mit einem einzigen Zug leerte.
Ein kalter Schauder durchlief sie. »Was geschieht jetzt?«
»Ich bringe dich nach oben ins Bett. Du schläfst friedlich ein.«
Amparo hatte Tränen in den Augen. »Du bist ein Dummkopf«, flüsterte sie. »Jaime, ich. ich sterbe - und trotzdem sollst du. wissen, dass ich dich sehr geliebt hab’.« Ihre Stimme klang bereits undeutlich.
Jaime stand auf und zog Amparo hoch. Sie schwankte unsicher. Der Raum schien sich vor ihren Augen zu drehen.
»Jaime.«
Er führte sie eng umschlungen aus der Bar in die Hotelhalle, wo Largo Cortez ihn mit zwei Schlüsseln in der Hand erwartete.
»Ich bringe sie in ihr Zimmer«, erklärte Jaime ihm. »Sie braucht Ruhe und darf nicht gestört werden.«
»Dafür sorge ich.«
Megan beobachtete, wie Amparo die Treppe hinauf von Jaime halb gestützt, halb getragen wurde.
In ihrem Zimmer dachte Megan darüber nach, wie seltsam es war, allein in einem Hotelzimmer eines Badeortes zu sein. San Sebastian wimmelte von Touristen, Flitterwöchnern und Liebespaaren, die sich in Hunderten von anderen Hotelzimmern vergnügten. Und plötzlich wünschte Megan sich, Jaime wäre hier bei ihr, und fragte sich, wie es wäre, von ihm geliebt zu werden.
Aber was hatte er Amparo angetan? Hatte er sie etwa.? Nein, dazu wäre er nie imstande gewesen! Oder vielleicht doch?
Zuletzt siegte ihre Entschlossenheit, nur Gutes von Jaime zu glauben. Aber dann überschwemmten Megans lange aufgestauten Gefühle ihren Verstand mit einer Sturzflut widersprüchlicher Emotionen. Ich begehre ihn, gestand sie sich ein. Mein Gott, was geschieht mit mir? Was soll ich dagegen tun? Wo soll das alles enden?
Ricardo pfiff vor sich hm, während er sich nach dem Duschen anzog. Er war bester Laune. Ich bin der glücklichste Mann der Welt, sagte er sich. In Frankreich können wir heiraten. Vielleicht in der schönen Kirche in Bayonne. Gleich morgen bestellen wir das Aufgebot ...
Graciela lag in dem zu ihrem Zimmer gehörenden Bad in der Wanne, genoss das warme Wasser und dachte dabei an Ricardo. Ich werde ihn nach Kräften glücklich machen, nahm sie sich lächelnd vor. Herr, ich danke dir!
Felix Carpio dachte über Jaime und Megan nach. Dass es zwischen den beiden gefunkt hat, sieht ein Blinder. Das bringt bestimmt Unglück. Nonnen gehören Gott. Schlimm genug, dass Ricardo Schwester Graciela dazu gebracht hat, auf ihre Berufung zu verzichten. Und Jaime hat sich immer genommen, was er wollte. Was hat er mit der Klosterschwester vor?
Die fünf trafen sich zum Abendessen im Speisesaal des Hotels Niza. Keiner von ihnen erwähnte Amparo Jiron.
Als Megan Jaimes Blick auf sich spürte, wurde sie plötzlich verlegen, als könne er ihre Gedanken lesen. Wahrscheinlich ist’s besser, keine fragen zu stellen, dachte sie. Ich weiß, dass er zu keiner Brutalität imstande wäre.
Wie sich zeigte, hatte Largo Cortez nicht übertrieben, als er ihnen ein gutes Abendessen versprochen hatte. Es begann mit Gazpacho, der dicken kalten Suppe aus Tomaten, Gurken und eingeweichtem Brot; danach gab es grünen Salat, eine riesige Schüssel Paella - Reis mit Krabben-, Huhn- und Rindfleisch in wunderbarer Sauce - und zuletzt eine köstliche Obsttorte. Für Ricardo und Graciela war dies seit Tagen wieder die erste warme Mahlzeit.
Nach dem Kaffee stand Megan auf. »Ich gehe lieber gleich ins Bett, glaube ich.«
»Warte«, verlangte Jaime. »Ich habe mit dir zu reden.« Er führte sie in eine Ecke der Hotelhalle, in der sie ungestört waren. »Was morgen betrifft.«
Und sie wusste, was er fragen würde. Aber sie wusste nicht, was sie antworten würde. Ich habe mich verändert, dachte Megan. Früher bin ich mir meines Lebens so sicher gewesen. Ich habe geglaubt, ich sei wunschlos glücklich.
»Du willst nicht wirklich ins Kloster zurück, stimmt’s?« fuhr Jaime fort.
Will ich das?
Er wartete auf ihre Antwort.
Ich muss ihm gegenüber rückhaltlos ehrlich sein, überlegte Megan. Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Ich weiß nicht, was ich will, Jaime. Ich bin völlig durcheinander.«
Jaime lächelte. Aber er zögerte noch und wählte seine Worte bedachtsam. »Megan.. dieser Kampf ist bald zu Ende. Wir werden bekommen, was wir fordern, weil das Volk hinter uns steht. Ich kann dir nicht zumuten, die Gefahren mit mir zu teilen, aber ich möchte, dass du auf mich wartest. Ich habe viele baskische Freunde, die in Frankreich leben. Bei ihnen wärst du sicher.«
Megan betrachtete ihn lange, bevor sie antwortete. »Lass mir Zeit, darüber nachzudenken, Jaime.«
»Du sagst also nicht nein?«
»Ich sage nicht nein«, bestätigte Megan ruhig.
Keiner der fünf konnte in dieser Nacht schlafen. Sie alle hatten zuviel zu überlegen, zu viele Konflikte zu lösen. Megan lag wach im Bett und ließ die Vergangenheit an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Die langen Jahre im Waisenhaus und hinter Klostermauern. das plötzliche Hinausgestoßenwerden in eine Welt, der sie für ewig entsagt hatte. Jaime Miro wagte sein Leben für eine Sache, an die er glaubte. Und woran glaube ich? fragte Megan sich. Wie will ich den Rest meines Lebens verbringen?
Sie hatte schon einmal eine Wahl getroffen. Jetzt musste sie sich erneut entscheiden. Morgen früh würde Jaime eine Antwort von ihr verlangen.
Auch Graciela dachte ans Kloster zurück. Dort habe ich so glückliche, friedvolle Jahre verbracht. Ich habe mich Gott so nahe gefühlt. Ob mir das fehlen wird?
Jaime dachte an Megan. Sie darf nicht ins Kloster zurückgehen! Ich will sie an meiner Seite haben. Wie wird ihre Antwort lauten?
Ricardo war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Er machte Pläne für ihre Hochzeit. Die Kirche in Bayonne...
Felix fragte sich, wie sie Amparos Leiche beseitigen sollten. Am besten überlassen wir das Largo Cortez.
Als die Gruppe sich sehr früh am nächsten Morgen in der Hotelhalle traf, zog Jaime Megan beiseite.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Jaime.«
»Hast du über unser Gespräch nachgedacht?«
Sie hatte die ganze Nacht lang nichts anderes getan. »Ja, Jaime.«
Er sah ihr in die Augen, als versuche er, dort die Antwort abzulesen. »Wartest du auf mich?«
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