Sie sah ihm in die Augen. »Jaime.«
Ein Mann drängte sich durch die Menge und kam auf Megan zugehastet.
»Entschuldigung«, sagte er atemlos. »Sind Sie Schwester Megan?«
Sie nickte erstaunt. »Ja.«
Er seufzte erleichtert. »Sie zu finden hat mich verdammt viel Mühe gekostet.« »Mein Name ist Alan Tucker. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
»Ja.«
»Allein.«
»Tut mir leid, ich bin gerade dabei.«
»Bitte! Diese Sache ist sehr wichtig. Ich bin eigens aus New York gekommen, um Sie aufzuspüren.«
Megan starrte ihn verständnislos an. »Um mich aufzuspüren? Das verstehe ich nicht. Weshalb.?«
»Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie einen Augenblick Zeit für mich haben.«
Der Amerikaner nahm ihren Arm, führte sie die Straße entlang und sprach dabei eifrig auf sie ein. Megan sah sich einmal nach Jaime Miro um, der stehen geblieben war und auf sie wartete.
Megans Gespräch mit Alan Tucker stellte ihre bisherige Welt auf den Kopf.
»Meine Auftraggeberin möchte Sie dringend sprechen.« »Das verstehe ich nicht. Wer ist Ihre Auftraggeberin? Was will sie von mir?«
Wenn ich das nur wüsste, dachte Alan Tucker. »Bedau-re, darüber darf ich nicht sprechen. Sie erwartet Sie in New York.«
Das war unbegreiflich. Hier musste irgendein Irrtum vorliegen. »Wissen Sie bestimmt, dass ich die Richtige bin - Schwester Megan?«
»Ja. Aber Sie heißen nicht Megan, sondern Patricia.« Seine Eröffnung traf Megan wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nach all diesen Jahren sollte ihr Wunschtraum sich erfüllen: sie würde endlich erfahren, wer sie war. Allein der Gedanke daran war erregend - und zugleich beängstigend.
»Wann. wann müsste ich abreisen?« Ihre Kehle war plötzlich so trocken, dass sie kaum sprechen konnte.
Ich möchte, dass Sie sie finden und so rasch wie möglich herbringen.
»Sofort! Ich besorge Ihnen einen Reisepass.«
Megan drehte sich um und sah Jaime wartend vor dem Hotel stehen.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.«
Sie ging benommen wie eine Schlafwandlerin zu ihm zurück.
»Alles in Ordnung?« fragte Jaime. »Oder hat der Kerl dich etwa belästigt?«
»Nein. Er ist. Nein, durchaus nicht.«
Jaime ergriff ihre Hand. »Ich möchte, dass du mitkommst. Wir gehören zusammen, Megan.«
Sie heißen nicht Megan, sondern Patricia.
Und sie betrachtete Jaimes energisches, gut geschnittenes Gesicht und dachte: Ich will bei ihm bleiben. Aber wir müssen noch warten. Erst muss ich wissen, wer ich bin.
»Jaime, ich. ich möchte bei dir bleiben. Aber ich habe erst noch etwas anderes zu erledigen.«
Er studierte ihr Gesicht mit sorgenvoller Miene. »Du gehst fort?«
»Nur für kurze Zeit. Ich komme bestimmt zurück.«
Jaime starrte sie lange an und nickte dann langsam. »Gut. Du erreichst mich über Largo Cortez.«
»Ich komme zu dir zurück. Das verspreche ich dir!«
Und sie meinte ihr Versprechen ernst. Aber das war vor ihrer Begegnung mit Ellen Scott.
»Deus Israel vos unit; et ipse sit vobiscum, qui, misertus est duobis unicisplenius benediscere...«
»Der Gott Israels vereint euch, und er sei mit euch, und der Herr gewähre euch die Gnade, ihn noch mehr zu preisen. Gesegnet sind die, die den Herrn lieben, die auf seinem Pfade wandeln. Rühmet.«
Ricardo sah von dem Geistlichen weg zu Graciela hinüber, die neben ihm stand. Ich hab ’ recht gehabt: sie ist die schönste Braut der Welt.
Graciela schwieg und hörte die Worte des Geistlichen durch die riesigen Gewölbe des Kirchenschiffs hallen. Wie friedvoll die Atmosphäre dieser Kirche war! Gracie-la hatte den Eindruck, als sei sie mit Geistern aus der Vergangenheit angefüllt - mit all den Zehntausenden von Menschen, die, Generation nach Generation, hierher gekommen waren, um Vergebung und Erfüllung und Freude zu erlangen. Alles erinnerte sie so sehr ans Kloster. Ich fühle mich, als sei ich wieder heimgekehrt, dachte Graciela. Als gehörte ich hierher.
»Exaudi nos, omnipotens et misericors deus; ut quod nostro ministratur officio tua benedictione potius implea-turper dominum.«
»Erhöre uns, allmächtiger und barmherziger Gott, auf dass, was kraft unseres Amtes getan wird, durch deinen Segen reiche Erfüllung findet.«
Er hat mich mehr gesegnet, als ich verdient habe. Lass mich seiner würdig sein.
»In te speravi, domine. Dixi: Tu es deus meus; in mani-bus tuis tempora mea...«
»Auf dich, o Herr, habe ich vertraut. Ich habe gesprochen: Du bist mein Gott; meine Zeit liegt in deinen Händen.«
Meine Zeit liegt in deinen Händen. Ich habe feierlich gelobt, den Rest meines Lebens ihm zu weihen.
»Suscipe quaesumus domine, pro sacra connubü lege munus oblatum...«
»Wir bitten dich, o Herr, empfange das Opfer, das wir dir um der heiligen Ehebande willen darbringen.«
Die Worte schienen in Gracielas Kopf widerzuhallen. Sie hatte das Gefühl, als stehe die Zeit still.
»Deus qui potestate virtutis tuae de nihilo cuneta fe-cisti...«
»O Herr, der du die Ehe als Vorbotin der Vereinigung Christi mit der Kirche geheiligt hast. blicke gnädig auf diese deine Magd herab, die im Begriff ist, die Ehe zu schließen, und Schutz und Stärke von dir erfleht.«
Aber wie kann er mir Gnade erweisen, wenn ich im Begriff bin, ihn zu verraten?
Graciela fiel plötzlich das Atmen schwer. Die Kirchenmauern schienen sie erdrücken zu wollen.
»Nihil in ea ex actibus suis illc auctor praevaricationis ursupet...«
»Lass den Urheber der Sünde keines seiner bösen Werke in ihr tun.«
In diesem Augenblick lag Gracielas zukünftiger Weg klar vor ihr. Und sie hatte das Gefühl, von einer schweren Last befreit worden zu sein. Jubelnde, unbeschreibliche Freude erfüllte sie.
»Möge sie den Frieden des himmlischen Königreichs erlangen«, betete der Geistliche. »Wir bitten dich, o Herr, diesen Ehebund zu segnen und.«
»Ich bin schon verheiratet«, sagte Graciela laut.
Danach herrschte schockiertes Schweigen. Ricardo, der Geistliche und die Trauzeugen starrten sie an. Ricardo war kreidebleich.
»Graciela, wie soll ich das.?«
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Entschuldige, Ricardo.«
»Ich. ich. das verstehe ich nicht! Liebst du mich denn nicht mehr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich liebe dich mehr als mein Leben. Aber mein Leben gehört nicht mehr mir. Ich habe es schon vor vielen Jahren Gott geweiht.«
»Nein! Ich lasse nicht zu, dass du dich aufopferst, nur weil du.«
»Ricardo, Liebster - das ist kein Opfer, sondern ein Segen. Im Kloster habe ich erstmals in meinem Leben Frieden gefunden. Du bist ein Teil der Welt, die ich aufgegeben habe - der beste Teil. Aber ich habe ihr entsagt und muss in meine Welt zurückkehren.«
Der Geistliche und die Trauzeugen hörten schweigend zu.
»Bitte verzeih mir, dass ich dich so verletze, aber ich darf mein Gelöbnis nicht brechen. Damit würde ich alles verraten, woran ich glaube. Das weiß ich jetzt. Ich könnte dich niemals glücklich machen, weil ich niemals glücklich wäre. Das musst du bitte verstehen.«
Ricardo starrte sie erschüttert an. Er brachte kein Wort heraus. In seinem Inneren schien alles erstorben zu sein.
Graciela sah seine Trauermiene, und ihr Herz schlug für ihn. Sie küsste ihn auf die Wange. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich werde für dich beten. Ich werde für uns beide beten.«
An einem Freitagnachmittag gegen siebzehn Uhr fuhr ein olivgrünes Sanitätsfahrzeug vor der Notfallambulanz des Krankenhauses in Aranda de Duero vor. Ein Sanitäter und zwei uniformierte Polizeibeamte kamen durch die Schwingtür marschiert und bauten sich vor dem Schreibtisch der Oberschwester auf.
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