»Sind Sie lebensmüde?«, brüllte ein Fuhrmann Sandman zu und zerrte an seinen Zügeln. Sandman achtete nicht auf ihn. Corday hatte gesagt, in diesem Haus habe Sir George Phillips sein Atelier, aber Sandman entdeckte in den Fenstern über dem Juweliergeschäft keinerlei Hinweis. Er ging wieder auf den Bürgersteig und fand neben dem Laden einen separaten Hauseingang, aber kein Schild, das erkennen ließ, wer hinter der grün gestrichenen Tür mit dem blank polierten Messingklopfer wohnte oder arbeitete. Ein einbeiniger Bettler, dessen Gesicht von Schwären entstellt war, saß im Eingang. »Eine Münze für einen alten Soldaten, Sir?«
»Wo hast du gedient?«, fragte Sandman.
»Portugal, Sir, Spanien, Sir, und Waterloo, Sir.« Der Bettler klopfte auf seinen Beinstumpf. »Das habe ich in Waterloo verloren, Sir. Hab alles mitgemacht, Sir. Wahrhaftig.«
»Welches Regiment?«
»Artillerie, Sir. Schütze, Sir.« Er klang etwas nervös.
»Welches Bataillon, welche Kompanie?«
»Achtes Bataillon, Sir.« Nun war dem Bettler erkennbar unbehaglich, seine Antwort war wenig überzeugend.
»Kompanie?«, fragte Sandman. »Und der Name des Kompaniechefs?«
»Hau ab«, schnaubte der Mann.
»Ich war nicht lange in Portugal«, sagte Sandman, »aber in Spanien habe ich gekämpft und in Waterloo.« Er hob den Türklopfer und klopfte laut. »In Spanien haben wir schwere Zeiten durchgemacht, aber Waterloo war bei weitem das Schlimmste, ich habe große Sympathien für alle, die da gekämpft haben.« Er klopfte noch einmal. »Aber ich kann wütend werden, verdammt wütend, wenn Männer behaupten, da gekämpft zu haben, die gar nicht da waren! Das ärgert mich maßlos!«
Der Bettler kroch vor Sandmans Zorn davon, als die grüne Tür sich öffnete und ein schwarzer Page von dreizehn oder vierzehn Jahren vor Sandmans wütender Miene zurückschreckte. Offenbar befürchtete er Arger, denn er versuchte sofort, die Tür zu schließen, aber Sandman schob seinen Fuß in den Türspalt. Hinter dem Jungen lag eine elegante Diele und ein schmales Treppenhaus. »Ist hier das Atelier von Sir George Phillips?«, fragte Sandman.
Der Page, der eine schäbige Livree und eine Perücke trug, die dringend hätte gepudert werden müssen, stemmte sich gegen die Tür, kam aber gegen Sandmans Kraft nicht an. »Wenn Sie nicht angemeldet sind, sind Sie nicht willkommen«, sagte der Junge.
»Ich bin angemeldet.«
»Wirklich?« Überrascht ließ der Junge die Tür los, die plötzlich aufschwang und Sandman stolpern ließ. »Sind Sie wirklich angemeldet?«, fragte der Junge noch einmal.
»Ich komme im Auftrag des Viscount Sidmouth«, erklärte Sandman großspurig.
»Wer ist da, Sammy?«, rief eine Stimme von oben.
»Er sagt, er kommt von Viscount Sidmouth.«
»Dann lass ihn herauf! Lass ihn herauf! Wir sind nicht zu stolz, Politiker zu malen. Wir verlangen von den Schweinehunden nur mehr.«
»Soll ich Ihnen den Mantel abnehmen, Sir?«, fragte Sammy mit einer flüchtigen Verneigung.
»Ich behalte ihn an.« Sandman schob sich in den engen Flur, der mit modischer Streifentapete und einem kleinen Lüster ausgestattet war. Sir Georges reiche Auftraggeber sollten von einem livrierten Pagen in einem mit Teppichen ausgelegten Entree empfangen werden. Als Sandman die Treppe hinaufging, störte Terpentingestank das elegante Erscheinungsbild, und der Raum in der ersten Etage, der ebenso vornehm wirken sollte wie die Diele, versank in Unordnung. Es war ein Salon, in dem Sir George seine fertigen Gemälde präsentieren konnte, der aber mittlerweile wohl eher als Abstellkammer für halb fertige Arbeiten, farbverkrustete Paletten, eine verschimmelte Wildpastete, alte Pinsel, Lappen und einen Haufen Männer- und Frauenkleider diente. Sammy deutete auf eine zweite Treppe, die ins Obergeschoss führte. »Möchten Sie Kaffee?«, fragte er auf dem Weg zu einer Türöffnung mit Vorhang, der offenbar eine Küche verbarg. »Oder Tee?«
»Tee wäre angenehm.«
Da man im Obergeschoss die Zimmerdecke entfernt und zwischen die nun sichtbaren Dachbalken Fenster eingebaut hatte, gewann Sandman den Eindruck, er steige ins Licht hinauf. Regen prasselte auf die Dachpfannen und tropfte so reichlich durch, dass überall im Atelier Eimer aufgestellt waren. Ein schwarzer dickbauchiger Ofen beherrschte die Raummitte, diente aber im Augenblick lediglich als Ablage für eine Flasche Wein und ein Glas. Neben dem Ofen stand eine Staffelei mit einer riesigen Leinwand, und auf einem Podest am anderen Ende des Raumes standen ein Marineoffizier und ein Matrose mit einer Frau Modell. Die Frau kreischte, als Sandman erschien, und griff hastig nach einem graubraunen Tuch auf einer Kiste, auf der der Marineoffizier saß.
Es war Sally Hood. Sandman verneigte sich vor ihr, seinen nassen Hut in der Hand. Sie hielt einen Dreizack und trug außer einem Messinghelm kaum etwas. Eigentlich trug sie gar nichts, wie Sandman bemerkte, aber ihre Hüften und Schenkel waren weitgehend von einem ovalen Schild verdeckt, auf das mit flüchtigen Kohlestrichen die britische Flagge skizziert war. Sie stellte wohl Britannia dar, erkannte Sandman. »Sie weiden Ihre Augen an Miss Hoods Brüsten. Wieso auch nicht? Im Vergleich zu anderen sind sie wunderbar, der Inbegriff von Titten.«
»Captain«, grüßte Sally Sandman kleinlaut.
»Ihr Diener, Miss Hood«, antwortete Sandman mit einer weiteren Verbeugung.
»Grundgütiger Gott!«, sagte der Maler. »Sind Sie meinetwegen oder wegen Sally hier?« Er war beleibt, ja, dick wie ein Fass, hatte aufgedunsene Wangen, eine dicke Nase und einen Bauch, über dem sich ein farbverschmiertes Rüschenhemd spannte. Sein weißes Haar steckte unter einer engen Kappe, wie man sie unter Perücken trug.
»Sir George?«, fragte Sandman.
»Zu Ihren Diensten, Sir.« Sir George deutete eine Verbeugung an, die aber bei seiner Leibesfülle lediglich zum leichten Hüftschwung geriet, und machte mit dem Pinsel in seiner Hand eine hübsch ausladende Geste, als sei es ein Fächer. »Seien Sie willkommen«, sagte er, »solange Sie einen Auftrag mitbringen. Ich verlange achthundert Guineen für ein Ganzfigurstück, sechshundert für ein Kniestück, und Brustbilder mache ich nur, wenn ich zu verhungern drohe, was seit 1799 nicht mehr vorgekommen ist. Viscount Sidmouth schickt Sie?«
»Er möchte sich nicht malen lassen, Sir George.«
»Dann können Sie gleich wieder verschwinden!«, sagte der Maler. Sandman überhörte den Vorschlag und schaute sich im Atelier um, das mit seinem Gewirr aus Gipsstatuen, Draperien, alten Lappen und halb fertigen Gemälden einen wilden Eindruck machte. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, schnaubte Sir George, dann rief er die Treppe hinunter: »Sammy, wo bleibt der Tee?«
»Kommt gleich!«, antwortete Sammy.
»Beeil dich!« Sir George warf Palette und Pinsel beiseite. Neben ihm malten zwei Jungen Wellen auf die Leinwand, Sandman nahm an, dass sie seine Lehrlinge waren. Das Gemälde war riesig, mindestens zehn Fuß breit, und zeigte einen einsamen Felsen in einem sonnenbeschienenen Meer mit einer erst zur Hälfte gemalten Flotte. Auf dem Felsen saß ein Admiral, flankiert von einem gut aussehenden jungen Mann in Matrosenuniform und von Sally Hood als Britannia. Warum sich der Admiral, der Matrose und Britannia einsam auf diesem ausgesetzten Felsen befanden, war nicht ganz ersichtlich, aber Sandman wollte auch nicht fragen. Ihm fiel auf, dass der Offizier, der für den Admiral Modell stand, kaum älter als achtzehn sein konnte, aber eine Uniform mit goldenen Tressen und zwei juwelenbesetzten Sternen trug. Das wunderte Sandman einen Augenblick, bis er sah, dass der rechte Ärmel des Jungen leer auf die Brust der Uniformjacke geheftet war. »Der echte Nelson ist tot.« Sir George war Sandmans Blick gefolgt und ahnte seinen Gedankengang. »Wir müssen uns also, so gut es geht, mit dem jungen Master Corbett behelfen. Wissen Sie, was die Tragödie in Master Corbetts Leben ist? Er kehrt Britannia den Rücken zu und muss so tagtäglich stundenlang in dem Wissen da sitzen, dass sich ein Paar der üppigsten Brüste von ganz London kaum zwei Fuß hinter seinem linken Ohr befindet und er sie nicht sehen kann. Ha! Meine Güte, Sally, hör auf, dich zu verstecken.«
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