Serena war über die Freude, die daraufhin in ihr aufkam, selbst erstaunt und rief ihm zu: »Ja, komm schon!«
Nimrod sprang in ihre Arme und leckte ihr Gesicht ab.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie ihn. »Ist mit den anderen auch alles okay?«
Nimrod drehte sich sofort um, rannte in die andere Richtung und blickte immer wieder zu ihr zurück.
»Du willst wohl, dass ich dir folge, was?«
Nimrod bellte und rannte jetzt weiter, ohne noch einmal zurückzuschauen.
Eine halbe Stunde lang folgte Serena dem Hund den Hauptwasserweg der verlassenen Stadt entlang. Je länger sie liefen, desto weniger kam sie sich wie in einer Stadt vor. Nichts wies darauf hin, dass hier jemals Menschen gelebt hatten. Es gab keine Straßen, nur Wasserläufe. In einigen glitzerte das Wasser, andere waren trocken. Auch der Boden zwischen den einzelnen Gebäuden war trocken. Keine Pflanze, nichts. Was sich natürlich innerhalb ein paar Tagen ändern konnte.
Möglicherweise lagen die Wohnhäuser ja außerhalb, wo sie noch unter dem Eis begraben waren. Diese von einer kalten Pracht geprägten Gebäude erinnerten sie an jene Stadt voller aufgelassener Ölfördertürme, die sie am Kaspischen Meer in der ehemaligen Sowjetunion einmal bereist hatte: meilenweit nichts als verrostete Rohrleitungen, durch die man mit einem Lastwagen hätte fahren können, und gespenstische Raffinerien, die sich wie Müllberge am Horizont erstreckten.
Sie hatte auch das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl sie wusste, dass es absurd war. Weit und breit war niemand, der sie hätte sehen können. Natürlich war Nimrod hier. Vielleicht gab es da auch noch andere Lebewesen. Manchmal verlor sie den Hund aus dem Blickfeld, blieb aber immer in Hörweite des Bellens. Dann wurde das Bellen lauter. Er wartete wohl auf sie, um ihr etwas zu zeigen.
Aus der Ferne sah sie etwas in der Sonne blinken. Bald erreichte sie am Rand der Wasserstraße einen zerstörten Hägglunds-Transporter. Der hintere Kabinenaufsatz war völlig zersplittert. Die Fiberglasscherben glitzerten überall auf dem Boden. Das Führerhaus schien jedoch noch intakt zu sein.
Serena ging zur Fahrertür, die einen Spalt offen stand, und riss sie ganz auf. Sie schnappte nach Luft, weil ihr Colonel O'Dells Leiche vor die Füße rutschte. Sein Kopf war ein einziger Blutklumpen, und an den Haaren klebten noch Teile des Armaturenbretts. Nimrod schnüffelte winselnd an dem leblosen Körper.
Der arme O'Dell. Sie würde ihn wohl beerdigen müssen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte. Aber zuerst einmal musste sie prüfen, ob der Sender des Hägglunds funktionierte und ob es Lebensmittel oder Wasser gab.
Sie kletterte ins Führerhaus und suchte systematisch nach einem Satellitentelefon, nach Waffen und Essbarem, nach allem, was eventuell gut zu verwenden war. Aber die Kabine war wie leer gefegt. Sie fand lediglich ein einziges Fertiggericht und einen Kurzwellensender.
Sie riss den Essensbeutel auf. Nimrod gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er auch einen Teil abhaben wollte, und kam schnuppernd in die Kabine.
»Ist ja schon gut«, sagte sie. »Komm nur rein.«
Sie teilten sich die Mahlzeit. Je länger sie kaute, umso mehr wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich eher nach Nachrichten hungerte. Sie blickte zum Kurzwellengerät und fragte sich, ob es wohl funktionierte, hoffte aber komischerweise, dass das nicht der Fall war.
Sie hielt es nicht mehr aus und stellte den Sender an. Er funktionierte. Ein lautes Rauschen war zu hören. Sie suchte die Frequenz der BBC. Sie fand den Sender und hörte die angespannte Stimme des Sprechers.
»Die Massenevakuierungen der Küstenstädte in den USA sind in vollem Gang«, berichtete der Sprecher. »Die Regierung hat den Flüchtlingen nach eigener Aussage fast drei Millionen Quadratkilometer Land zur Verfügung gestellt. Das entspricht annähernd dreißig Prozent der US-Landfläche.«
Stück für Stück wurden die Einzelheiten genannt: der gewaltige ›seismische Zwischenfall‹ in der Antarktis, der einen Gletscher in der Größe von Texas abgespalten hatte, die Überflutung der Malediven und anderer Inseln im Pazifik, die Zusammenkunft des UN-Sicherheitsrates in New York und die Schuldzuweisungen bezüglich geheimer amerikanischer Atomwaffentests in der Antarktis.
Mein Gott, was haben wir da angestellt? Serena hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Sie überließ Nimrod den Rest der Mahlzeit.
Diverse Kommentatoren, Situationsanalytiker und Wissenschaftler von internationalem Rang meldeten sich zu Wort. Einige befürchteten, dass die Eiskappe ganz zusammenbrach, andere glaubten, dass der Meeresspiegel ganze Küstenregionen auslöschte und tief liegende Gebiete wie Florida im Meer versinken ließ. Diejenigen, die Zugang zu den entscheidenden Stellen besaßen, gaben zu, Gerüchte von einer potenziellen Erdkrustenverschiebung und einer weltweiten geologischen Katastrophe gehört zu haben.
Serena schaltete den Sender aus und nahm das Zepter des Osiris wieder aus ihrem Rucksack. Sie starrte es an, und es drehte sich ihr der Magen, als sie daran dachte, was dieses Zepter bisher alles angerichtet hatte.
Sie öffnete die Beifahrertür. Nimrod sprang hinaus, rannte zum Kanal hinüber und schlabberte das Wasser. Sie ging zu ihm, kauerte sich neben ihn und sah zum anderen Ufer. Es war ungefähr 170 Meter weit entfernt.
Nimrod schien das Wasser gut vertragen zu haben. Sie holte eine leere Wasserflasche aus dem Rucksack und tauchte sie ein. Die Strömung war so stark, dass sie die Flasche sofort mitriss. Serena hielt nun einfach die hohle Hand ins Wasser und schlürfte daraus. Sie spritzte gerade etwas Wasser auf ihr ölverschmiertes Gesicht, als sie ein Jaulen vernahm.
Sie drehte sich um. Nimrod lag mit aufgerissenen Augen auf der Seite und hechelte. Sie spuckte das Wasser aus und untersuchte ihn.
»Stimmt was nicht, alter Junge?« Sie machte sich Sorgen und kraulte ihn an den Ohren. »Sag bloß nicht, dass es am Wasser liegt.«
Es war nicht das Wasser. Aus Nimrods Bein sickerte Blut. Sie schaute genauer hin. Es sah wie ein Einschussloch aus.
»Mein Gott«, wollte sie gerade sagen, da erschien auf Nimrods Fell in Brusthöhe ein leuchtend roter Fleck. Eine Sekunde später schoss das Blut nur so heraus. Sie sprang auf und schrie.
Ein Dutzend arabische Soldaten in UNACOM-Uniformen umstellten sie und hielten ihre Kalaschnikows im Anschlag. Ihr Befehlshaber machte einen Schritt aus dem Kreis heraus und sprach in sein Funkgerät.
»Jamil hier«, sagte er auf Arabisch. »Wir haben einen Überlebenden gefunden. Eine Frau.«
Serena glaubte, dass er mit ägyptischem Akzent sprach. Die Antwort, die aus dem Funkgerät drang, bestätigte ihre Vermutung: »Bring sie zu mir.«
»Jawohl.«
Bevor sich Serena rühren konnte, gab Jamil einem seiner Männer ein Zeichen, worauf sie dieser übereifrige Grünschnabel auf den Boden warf, um sie mit beachtlichem Kraftaufwand unten festzuhalten. Er riss ihren Overall auf, griff hinein und tastete sie überall ab.
»Was haben wir denn hier?«, sagte der Soldat mit saudiarabischem Akzent und zog ein Schnappmesser heraus.
Der Saudi hielt das Messer hoch und ließ die Klinge aufspringen, worauf prompt das Gelächter seiner Kameraden einsetzte. Dann schleuderte er das Messer durch die Luft. Es grub sich in den Boden. Seine Augen schienen Feuer zu versprühen, während er nun mit in die Hüften gestemmten Armen über Serena stand.
Jetzt reichte es ihr. Der Saudi wollte gerade weggehen, da trat sie ihm mit voller Wucht in den Unterleib. Er wich vor Schmerz zurück. Serena sprang auf und wollte ihr Knie gerade in sein gebeugtes Gesicht stoßen, da zeichneten sich plötzlich rote Punkte auf ihrem Oberkörper ab. Beim Aufschauen sah sie, wie zahlreiche Kalaschnikows auf sie gerichtet waren.
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