»Die harten Bedingungen hier haben schon so manchen zum Durchdrehen gebracht«, sagte Yeats.
Conrad sah seinen Vater an. »Genau das ist wohl mit dir passiert.«
Yeats blieb stehen und drehte sich vor einer Tür, auf der Nur für Personal stand, nach allen Seiten um. Als ob jemand da wäre, der unbefugterweise die Sicherheitsmaßnahmen durchbrechen könnte.
»Folge mir durch diese Tür, mein Junge«, sagte Yeats mit der Hand auf der Entriegelung. »Dann rastest du womöglich selbst aus.«
***
In dem höhlenartigen Labor stand eine etwa drei Meter hohe Pyramide auf einer etwas erhöhten Plattform. Es war ein massives Steingebilde, das fast rötlich glühte und an den Seiten mit vier Rillen versehen war. Sie begannen auf halber Höhe der Schräge und liefen in Richtung Spitze aufeinander zu.
Conrad stieß einen leisen Pfiff aus.
»Kurz nach dem letzten großen Beben vor ein paar Wochen haben die Satelliten des Pentagons eine dunkle Anomalie unter dem Eis aufgezeichnet«, sagte Yeats. »Wir haben sofort eine Untersuchungsmannschaft hingeschickt, aber die konnte nichts finden. Die Anomalie konnte mittels Ultraschall nicht erfasst werden, so wie es aussah. Dann begannen wir zu bohren. Eine Meile unter der Eisdecke sind wir dann auf dieses Steingebilde gestoßen. Es ist eindeutig nicht natürlichen Ursprungs.«
Stimmt, dachte Conrad mit zunehmender Erregung, während er den Stein genauer betrachtete. Der offizielle Standpunkt des amerikanischen Außenministeriums war, dass vor dem 19. Jahrhundert kein Mensch die Antarktis betreten hatte. Dieser Stein war aber mindestens so alt wie das Eis, das ihn bedeckt hatte – 12.000 Jahre. Er wies höchstwahrscheinlich auf die Hinterlassenschaften einer Kultur hin, die doppelt so alt wie die der Sumerer war, der ältesten uns bekannten Zivilisation auf der Erde.
Conrad streifte mit der Hand über die glatte Oberfläche des Steingebildes und legte einen Finger in eine der merkwürdigen Rillen. Das könnte der entscheidende Fund sein, dachte er und zitterte beinahe. Der erste Beweis der ›Urzivilisation‹, den er bereits sein Leben lang suchte.
»Und wo ist der Rest?«, fragte er.
Yeats schien zu zögern. »Der Rest von was?«
»Der Pyramide«, sagte Conrad. »Das hier ist ein Benben-Stein.«
»Benben?«
Jetzt stellte sich Yeats sichtlich dumm. Er wollte wohl unbedingt wissen, ob seine Anstrengungen, Conrad hierher zu kriegen, die Mühe wert gewesen waren. Conrad war bereit, sein Wissen auszuspucken, aber er würde sich nicht einfach so abspeisen lassen.
»Ein altes ägyptisches Symbol für den Bennu-Vogel – den Phönix«, sagte Conrad. »Er steht für die Wiedergeburt und die Unsterblichkeit. Der Benben ist der Schlussstein einer Pyramide, auch Pyramidion genannt.«
»Du hast ihn also schon einmal gesehen?«
»Nein«, sagte Conrad. »Die Steine fehlen bei allen großen Pyramiden. Wir kennen sie in erster Linie aus alten Texten. Diese Steine waren Nachbildungen jenes ursprünglichen, lange schon verloren gegangenen Benben-Steins, der angeblich vom Himmel gefallen war.«
»Wie ein Meteorit«, sagte Yeats und starrte den Stein an.
Conrad nickte. »Und ein Benben dieser Größe bedeutet, dass die Pyramide darunter riesig sein muss.«
»Eine Meile hoch und fast zwei Meilen breit.«
Conrad sah Yeats ungläubig an. »Das ist mehr als zehnmal so groß wie die große Pyramide von Gise.«
»Genau elf Komma eins mal so groß«, sagte Yeats. Sein Vater hatte sich also mit der Sache vertraut gemacht. »Größer als das Pentagon. Ihre Oberfläche ist glatter als ein Tarnkappenbomber, was vielleicht erklärt, warum die Echolotung sie nicht erfasst hat. Diese Rillen auf dem Schlussstein sind die einzigen charakteristischen Erkennungsmerkmale der P4. Natürlich abgesehen von der Größe selbst.«
Conrad berührte den Benben-Stein noch einmal. Er konnte es einfach nicht fassen, dass auf der Erde eine frühe Zivilisation auf noch höher entwickeltem Stand existiert hatte, als er sich das bislang vorstellen konnte.
»P4«, murmelte Conrad vor sich hin. So hat man sie also benannt. Kurzform für die ›Pyramide mit den vier Rillen‹. Wie einleuchtend. »Und sie ist mindestens 12.000 Jahre alt.«
»Wenn die P4 so alt ist wie dieser Benben-Stein, dann ist sie mindestens sechs Milliarden Jahre alt, mein Sohn.«
»Sechs Milliarden?«, wiederholte Conrad. »Das ist unmöglich. Die Erde gibt es ja selbst erst seit viereinhalb Milliarden Jahren. Willst du etwa behaupten, dass die P4 älter als unser Planet sein könnte?«
»Genau das«, sagte Yeats. »Und sie ist direkt unter uns.«
Entdeckung 7 plus 24 Tage, 15 Stunden
Unter dem Summen der beiden Ventilatoren, die Luft in das Abteil bliesen, konnte Yeats noch leise die Mozartklänge hören. Er beobachtete Conrad, der die Daten der P4 auf seinem Laptop analysierte.
Conrad, der einen Becher heißen Kaffee mit der verbundenen Hand umfasste, schüttelte den Kopf. »Bei dir ändert sich wohl nie was, Dad.«
»Was meinst du damit?«, fragte Yeats barsch.
»Als ich noch klein war, hast du mir nie beigebracht, wie man einen Drachen zum Fliegen bringt oder wie man beim Baseball den Ball wirft«, sagte Conrad. »Nein, so was musste ich mir selbst beibringen. Du hast immer gesagt: ›Junge, was hältst du von dem Entwurf des Waffensystems hier?‹ oder ›Willst du nicht zuschauen, wenn mein neuer Aufklärungssatellit in den Weltraum geschossen wird?‹ Und immer wenn ich dich auf diesem Scheißplaneten treffe, sieht alles gleich aus. Immer irgendeine Militärbasis. Immer dunkel. Immer kalt. Immer Schnee.«
Yeats blickte durch das Aussichtsfenster nach draußen in den tobenden Sturm. Der Whiteout war so schlimm, dass er nicht einmal die Eisschlucht erkennen konnte. Die Überreste der C-141 waren schon längst unter dem Schnee begraben. Er war erleichtert, dass Conrad den Absturz überlebt hatte, und freute sich, ihn bei sich zu haben. Es war allerdings eindeutig, dass Conrad anders empfand, und das verletzte ihn.
»Wahrscheinlich bring ich das so mit mir.« Yeats schenkte sich zum dritten Mal einen Schluck Whiskey ein und deutete mit dem Kopf auf die Laptop-Daten. »Die Radiokarbondatierung scheint jedenfalls überzeugend zu sein.«
»Jedenfalls für den Benben-Stein«, sagte Conrad gerade, als noch eine dieser Erschütterungen, die sich wie das Rattern eines Zugs anfühlten, den Raum ergriff.
»Das sind unsere.« Yeats bezog sich auf die Bohrer, die unten in der Schlucht das Eis auf der Spitze der P4 wegräumten. »Du wirst das richtige Beben schon noch mitkriegen.«
»Und du glaubst, dass die P4 die Beben auslöst?«
»Mein Junge, du bist doch das Genie. Verrat du es mir.«
Conrad nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. »Verdammt, was haben die denn da verwendet? Ölschmiere?«
»Wasser. Die Station wird mit geschmolzenem Schnee versorgt. Der Sojafraß ist noch schlimmer.«
Conrad schob den Kaffee weg. »Nur weil der Benben-Stein angeblich sechs Milliarden Jahre alt ist, heißt das noch lange nicht, dass die übrige Pyramide genauso alt ist oder dass Außerirdische sie gebaut haben.«
»Wer redet denn von Außerirdischen?« Yeats gab sich sichtlich Mühe, seine ausdruckslose Miene beizubehalten, aber Conrad war mit seinen Gedanken schon weiter.
»Seit Entstehung der Erde haben immer wieder Meteoriten den Planeten bombardiert – wie der viereinhalb Milliarden alte Steinbrocken vom Mars, der vor ein paar Jahren hier in der Antarktis gefunden wurde«, sagte Conrad. »Es können Menschen gewesen sein, die so einen Meteoriten nach Milliarden Jahren gefunden haben, um ihn dann zu einem Benben-Stein zu bearbeiten.«
Yeats schüttete seinen Jack Daniel's hinunter. »Wie du meinst.«
»Also irgendjemand hat die P4 gebaut. Und zwar lange bevor die Antarktis mit Eis bedeckt war und lange bevor eine uns bekannte menschliche Zivilisation existierte. Wer auch immer die Erbauer der P4 gewesen sein mögen, ihre Kultur war auf jeden Fall hoch entwickelt, möglicherweise sogar weiter fortgeschritten als die ganze zivilisierte Welt heute.«
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