»Wie lange werden Sie für den ganzen Text brauchen?«, wollte Stanton wissen.
»Möglicherweise ein paar Tage.«
»Wie lange haben Sie für diesen ersten Teil gebraucht?«
»Etwa zwanzig Stunden.«
Stanton warf einen Blick auf die Uhr. Dann hatte Chel durchgearbeitet genau wie er. »Haben Sie Schlafstörungen?«
»Ich bin eingenickt und habe ein paar Minuten gedöst«, antwortete sie. »Ich habe bis jetzt gearbeitet.«
»Haben Sie Familie hier in der Stadt?«
»Nur meine Mutter, und der geht’s gut. Und Sie? Was ist mit Ihrer Familie?«
»Ach, ich habe nur einen Hund. Und ihm und meiner Exfrau geht es auch gut.« Stanton fiel auf, dass ihm das Wort »Exfrau« so leicht über die Lippen gekommen war wie schon lange nicht mehr.
Chel seufzte. Dann sagte sie: »Majun wonombam.«
»Was bedeutet das?«
»Das ist ein Gebet der indígenas und bedeutet so viel wie: Möge keiner zurückbleiben.«
Stanton schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Rufen Sie zuerst mich an, wenn Sie irgendwelche Symptome haben.«
***
Auf der Strandpromenade konnte man nur selten das Rauschen der Brandung hören, aber an diesem Abend waren die Wellen das Einzige, was Stanton hörte. Die lärmenden Jugendlichen, die normalerweise vor den Haschläden herumlungerten, waren ebenso verschwunden wie die ausgelassen Feiernden unten am Strand. Stanton stellte seinen Wagen unter dem gigantischen Wandgemälde von Abbot Kinney ab. Der Boardwalk war wie leer gefegt. Die Polizei hatte die Leute nach Hause oder in eine Obdachlosenunterkunft geschickt.
Doch wenn es darum ging, sich zu verstecken, gehörten die Leute vom Ocean Front Walk zu den erfinderischsten in der Stadt. Stanton nahm die sechs Packungen mit Schutzbrillen, die er aus dem Labor mitgenommen hatte, und steckte sie in seine Tasche. Er hatte zwar tausend Dinge zu erledigen, aber die Freaks vom Boardwalk waren seine Freunde und Nachbarn. Und wenn er etwas für sie tun konnte, auch wenn es noch so lächerlich wenig war, dann wollte er es tun. Das Gefühl der Ohnmacht war schon groß genug.
Als Erstes ging er zu den öffentlichen Toiletten, wo er in einer der Kabinen ein Pärchen entdeckte. Nachdem er den beiden zwei Schutzbrillen in die Hand gedrückt hatte, setzte er seinen Weg fort. In einer Nische zwischen zwei Tattoo-Läden stieß er auf einen Typen, den er flüchtig kannte. Er nannte sich der »Lustigste Säufer der Welt« und sang meistens »Lasst uns froh-ho und betrunken sein«. An diesem Abend sagte Marco nichts, und er sang auch nicht, sondern lachte nur dümmlich, als Stanton einen Augenschutz vor ihm auf den Boden legte.
Hinter dem jüdischen Seniorenzentrum stand ein VW-Bus. Stanton öffnete die Tür und entdeckte vier Teenager, die einen Joint rauchten. »Willst du auch?«, fragte einer und hielt ihm die Haschzigarette hin.
Stanton lehnte mit einer Handbewegung ab. »Da, setzt die auf, zu eurem eigenen Schutz«, sagte er und ließ ihnen ein paar Schutzbrillen da.
Vor dem Haus des einzigen Schönheitschirurgen in Venice blieb er stehen und betrachtete das Graffiti, das mittels einer Schablone auf das Gesicht von BOTOX ON THE BEACH gesprüht worden war. Er hatte dieses Zeichen schon öfter hier in der Gegend gesehen, aber er hatte nie verstanden, was es mit 2012 zu tun hatte:

Verwirrt ging er weiter in Richtung Süden. Er meinte sich zu erinnern, dass eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein griechisches und kein Maya-Symbol war. Aber in Zeiten wie diesen warfen die Leute alles in einen Topf und stellten die unglaublichsten Verknüpfungen her.
Das Metallgitter am Groundwork Coffee war heruntergelassen, und im Fenster hing ein kleines Schild: GESCHLOSSEN, SOLANGE WIR ES SAGEN, VERDAMMTE SCHEISSE. In diesem Moment fiel Stanton ein, dass er jemanden vergessen hatte. Er machte kehrt. Wenige Minuten später stieg er ein paar Häuserblocks weiter nördlich die Treppe zur Venice Beach Freak Show hinauf und klopfte auf das gelbe Fragezeichen, das mitten auf die Tür gemalt war. Wenn sein Freund irgendwo daheim war, dann hier. »Monster? Bist du da?«
Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Eine Frau unbestimmten Alters mit einer Haut wie Porzellan lugte heraus. Sie trug gestreifte Strümpfe und einen kurzen Rock. Die »Electric Lady« hatte krauses schwarzes Haar – die Stromstoßfrisur rührte angeblich daher, dass sie als Kind von einem Blitz getroffen worden war. Stanton hatte einmal gesehen, wie sie auf einem elektrischen Stuhl saß und einen mit Benzin übergossenen Stock mit der Zunge in Brand steckte. Sie war außerdem Monsters Freundin. Elektrisierend .
»Wir sollen niemanden reinlassen«, sagte sie.
Stanton hielt die Schachteln mit den Schutzbrillen hoch. »Die hier sind für euch, Leute.«
Die Räumlichkeiten bestanden aus einem Saal und einer kleinen Bühne, auf der die Künstler Schwerter schluckten oder sich Dollarnoten auf die Haut tackerten. Die Electric Lady winkte Stanton nach hinten. Dann wandte sie sich wieder der weltgrößten Schau von Tieren mit zwei Köpfen zu, um sie zu füttern. Es gab »siamesische« Schildkröten, eine Albinoschlange mit zwei Köpfen, einen Leguan mit zwei Köpfen und einen Mini-Dobermann mit fünf Beinen. In Gläsern waren die toten Körper eines Huhns mit zwei Köpfen, eines Waschbären und eines Eichhörnchens konserviert.
Stanton fand seinen tätowierten Freund in dem kleinen Büro ganz hinten. Kleidungsstücke waren über eine Pritsche in der Ecke verstreut. Monster saß am Schreibtisch, vor sich den alten Laptop, der sein ständiger Begleiter war.
»Hey, Gabe. Dein Name taucht überall auf. Dachte, du wärst in Atlanta.«
»Nein, ich sitze hier fest wie alle anderen auch.«
»Was machst du hier in Venice? Müsstest du nicht in irgendeinem Labor sein?«
»Mach dir deswegen keine Gedanken.« Stanton hielt einen Augenschutz hoch. »Tu mir einen Gefallen und setz den hier auf. Ich lass dir noch ein paar da, damit du sie an alle verteilen kannst, die noch keinen haben.«
»Danke.« Monster nahm die Schutzbrille und streifte sich die Schlaufen hinter die Ohren mit den Ringen am oberen Rand. »Electra und ich haben gerade von dir geredet, Doc. Glaubst du diesen Scheiß, den der Bürgermeister von sich gibt?«
»Was meinst du?«
»Hast du es noch nicht gehört? Die Meldung kam vor ein paar Minuten. Du wirst auch erwähnt, ein paar Mal sogar.« Er drehte den Laptop herum, damit Stanton den Monitor sehen konnte. »Im Internet sind die internen E-Mails aufgetaucht, die in den acht Stunden vor und nach der Entscheidung über die Quarantäne vom Büro des Bürgermeisters verschickt worden sind. Auf der Website von einer dieser Enthüllungsplattformen. Die Seite wurde schon zwei Millionen Mal angeklickt.«
Stanton bekam ein banges Gefühl, als er die Nachrichten überflog. Mails vom Seuchenzentrum an den Bürgermeister, die davor warnten, wie schnell sich die VFI-Fälle ausbreiten könnten. Lakonische Anfragen aus der Stadtverwaltung, mit wie vielen Todesopfern innerhalb der nächsten Woche zu rechnen sei. Kommentare darüber, dass angesichts der Unzerstörbarkeit des Prions öffentliche Plätze und Gebäude nicht dekontaminiert werden konnten und Teile von L.A. deswegen vielleicht für alle Zeit unbewohnbar sein würden.
»Das sind wilde Spekulationen über Worst-Case -Szenarien«, sagte Stanton. »Keine Fakten.«
»Wir haben 2012, Bruder – das macht keinen Unterschied mehr.«
In einem anderen Online-Artikel wurde die Vermutung geäußert, Volcy könne den Erreger aus irgendeinem politischen Grund absichtlich eingeschleppt haben. »Das ist lächerlich«, murmelte Stanton kopfschüttelnd.
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