Gibt es solche Zufälle?
Hinter der lärmenden Menge sah ich Haniba, Auxilas Frau. Sie stand da wie versteinert und sah zu, wie die Scharfrichter ein weiteres Mal um den Leichnam herumschritten. Mein Herz war voller Kummer für sie und für ihre Kinder, Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen, die weinend neben ihr standen.
Die blutbesudelten Priester schafften Auxilas Leichnam zurück in den Tempel. Sie erwiesen ihm nicht einmal die Ehre, ihn die Stufen der großen Pyramide hinunterzuwerfen. Sie entzogen die Leiche den Blicken aller, und ich wusste, sie würden erst in der schwärzesten Nacht wieder herauskommen, dann, wenn der Abendstern im vollkommenen Winkel zum Tempel stand.
Wie ich so auf den Stufen des Königspalastes verharrte und Zeuge dieses Irrsinns wurde, fasste mich plötzlich jemand von hinten am Knie. Ich drehte mich um. Es war Jacomo, der Zwerg, der hinzugetreten war. Er kaute immer noch auf seinem Stück Rinde herum und lächelte.
Er sprach:
– Gelobt sei der Name von Jaguar Imix, dem heiligen Herrscher von Kanuataba, dessen Weisheit uns durchs Leben führt. So sei es, nicht wahr, Paktul? –
Ich hätte ihn am liebsten geschlagen, aber ich bin kein Mann der Gewalt. Und so antwortete ich nur:
– Gelobt sei der Name von Jaguar Imix, dem heiligen Herrscher von Kanuataba, dessen Weisheit uns durchs Leben führt. –
Erst als ich in dieser Höhle war, wo ich begann, das geheime Buch zu malen, ließ ich den Schrei entweichen, den ich in mir gefangen gehalten hatte.
Nur die Götter hörten ihn.
Was soll ich von einem Gott halten, der uns keine segensreichen Gaben gebracht hat, der den Bau eines Tempels befiehlt, den wir nicht errichten können, und der den Tod eines Mannes fordert, der dem König treu ergeben war? Wer ist dieser mächtige und geheimnisvolle neue Gott namens Akabalam?
12.19.19.17.12 – 13. DEZEMBER 2012

15

Die Schnellstraße 10 war nahe Cloverfield gesperrt worden, damit die Nationalgarde Lebensmittel und andere Hilfsgüter in die westlichen Stadtteile transportieren konnte. Stanton fuhr auf Nebenstraßen, vorbei an verlassenen Einkaufszentren, Grundschulen und Autowerkstätten. Obwohl kaum Fahrzeuge unterwegs waren, ging es nur langsam voran, weil die Nationalgarde im Abstand von ungefähr einer Meile Kontrollpunkte errichtet hatte. Der Gouverneur von Kalifornien hatte dem umstrittenen Plan von Cavanagh und Stanton zugestimmt und den Notstand ausgerufen, damit erstmals in der Geschichte der USA eine ganze Stadt unter Quarantäne gestellt werden konnte.
Die Nationalgarde sicherte die Grenzen: vom San Fernando Valley im Norden bis zu den San Gabriel Mountains im Osten und Orange County im Süden. Es durften keine Maschinen starten oder landen. Im Westen, auf dem Pazifik, hatte die Küstenwache fast zweihundert Boote im Einsatz, um den Hafen und die Küste zu überwachen. Bisher hatten die Einwohner von Los Angeles erstaunlich gelassen auf die Verhängung der Quarantäne reagiert und sich so kooperativ gezeigt, dass sogar die optimistischsten Politiker in Sacramento und Washington überrascht waren.
Darüber hinaus wurde jeder, der sich in den vergangenen Tagen zu Besuch in L.A. aufgehalten hatte, sowie Einwohner, die die Stadt noch vor Verhängung der Quarantäne verlassen hatten, vom Seuchenzentrum auf Krankheitserreger getestet. Die Mitarbeiter des CDC machten jedes Flugzeug ausfindig, das in letzter Zeit vom Flughafen in L.A. gestartet war, spürten Bahnreisende anhand von Kreditkartenquittungen auf und ermittelten viele, die auf der Straße unterwegs waren, mittels der Mautstellen und durch Fotos von Radargeräten. Bis jetzt waren acht Fälle in New York, vier in Chicago und drei in Detroit aufgetreten; hinzu kamen die fast elfhundert Infizierten im Großraum Los Angeles.
Stanton und die anderen Ärzte konnten für die Erkrankten nichts weiter tun, als ihnen ein möglichst angenehmes Umfeld zu schaffen. Bei den meisten Infizierten traten nach einer kurzen Inkubationszeit Schlafstörungen und starkes Schwitzen auf, dann kamen krampfartige Anfälle, Fieber und Insomnie dazu. Patienten, die drei Tage oder länger nicht mehr geschlafen hatten, waren am schwierigsten zu überwachen. Sie litten an Bewusstseinstrübung und hatten Panikattacken, schließlich kam es, wie auch bei Volcy und Gutierrez, zu Halluzinationen und zu gewalttätigen Ausbrüchen. Innerhalb einer Woche wären sie wahrscheinlich tot, das wusste Stanton, und er konnte nichts dagegen tun. Rund zwanzig Infizierte waren bereits gestorben.
Stanton war auf dem Weg nach Venice. Der Anblick der Army-Geländewagen in Tarnfarben und der Männer und Frauen in gelbbrauner Uniform und mit umgehängtem Maschinengewehr auf dem Lincoln Boulevard hatte etwas zutiefst Verstörendes. Während Stanton vor dem Kontrollpunkt wartete, warf er einen Blick auf sein Handy, wo auf dem Display die aktualisierte Liste der Namen von Infizierten erschien. Die Opfer stammten aus jeder ethnischen Gruppe, jeder sozialen Schicht und praktisch jeder Altersgruppe. Das Tragen einer Brille hatte einige vor Ansteckung geschützt, aber viele, die eine Brille trugen, hatten sich trotzdem angesteckt. Die Einzigen, die offenbar immun waren gegen VFI, waren Blinde, deren Sehnerven keine Verbindung mehr zum Gehirn hatten, und Neugeborene. Die Sehnerven waren bei Babys noch nicht entwickelt, und solange die Hülle, die sie umgab, heranreifte, konnte der Krankheitserreger nicht ins Gehirn gelangen. Dieser Schutz blieb allerdings nur bis zum sechsten Lebensmonat erhalten, sodass das kein Trost für Stanton war.
Er fuhr mit seinem Audi im Schritttempo auf den Kontrollpunkt zu. Auf der Liste standen die Namen von Ärzten und Schwestern, die er im Presbyterian Hospital kennengelernt hatte, sowie die von zwei Mitarbeitern des CDC, die er kannte und mochte.
Dann entdeckte er auch die Namen von Maria Gutierrez und ihrem Sohn Ernesto.
Stanton wusste, dass er eigentlich in der Lage sein sollte, mit dem Tod umzugehen. Und er hatte in seiner Laufbahn schon einige wirklich schlimme Fälle erlebt. Aber auf das hier war er nicht vorbereitet. Er brauchte jemanden, der ihn erdete, und normalerweise hätte er Nina angerufen. Nach ihrem letzten Besuch bei ihm war sie wieder aufs Meer hinausgefahren, und als er sie angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass VFI durch die Luft übertragen werden konnte, war ein unbehagliches Schweigen entstanden. Im Grunde hätte Stanton sie anweisen müssen, sofort an Land zu kommen und sich testen zu lassen. Doch da sie anscheinend keinerlei Symptome hatte, war es ihm lieber, wenn sie weit, weit weg blieb. In Bussen und öffentlichen Toiletten und in fast jedem Krankenhaus der Stadt waren pathogene Prionen gefunden worden, und nicht einmal den auf die Beseitigung gefährlicher Stoffe spezialisierten Reinigungsfirmen war es gelungen, die Kontaktflächen zu dekontaminieren.
Sein Handy klingelte. »Stanton.«
»Hier ist Chel Manu.«
»Dr. Manu! Sind Sie schon weitergekommen?«
Sie erzählte ihm von dem Vater-Sohn-Glyphenpaar, von der Entdeckung, die sie gemacht, und von dem ersten Teil der Handschrift, die sie übersetzt hatten. Stanton konnte ihr zwar nicht ganz folgen, aber ihre Klugheit beeindruckte ihn ebenso sehr wie die Tatsache, dass sie eine so komplizierte Sprache beherrschte und über so umfangreiches Geschichtswissen verfügte. Er hörte auch die Leidenschaft in ihrer Stimme. Er hatte zwar keinen Grund, dieser Frau zu trauen, aber die Energie, die sie ausstrahlte, hob seine Stimmung.
»Im ersten Teil haben wir keine näheren geografischen Angaben gefunden«, fuhr sie fort. »Aber die Schilderung der Ereignisse ist sehr detailliert, und deshalb hoffen wir, dass der Schreiber uns später Genaueres über seinen Aufenthaltsort verraten wird.«
Читать дальше