Als Mitarbeiterin der Bezirksstaatsanwaltschaft konnte Alice gut nachvollziehen, warum die Digitalisierung der Gefängnisbibliotheksbestände nur im Schneckentempo voranging. Alles, was die Regierung des Staates Kalifornien tat, verschlang einen Teil ihres Budgets. Dieses Budget schwankte von Jahr zu Jahr, und wie es verteilt wurde, hing von der Wichtigkeit der einzelnen Maßnahmen ab. Da innerhalb des kalifornischen Justizsystems gerade eine ganze Reihe von Reformen umgesetzt werden musste, stand die Digitalisierung der Gefängnisbibliotheken ziemlich weit unten auf der Prioritätenliste.
»Jeder Häftling bekommt eine Ausleihkarte«, fuhr Devlin nach einer kurzen Pause fort. »Jedes Mal, wenn er ein Buch ausleiht, werden die Katalognummer des Buchs und das Ausleihdatum auf die Karte geschrieben. Und die Nummer des Häftlings kommt auf die jeweilige Karteikarte. Wir verwenden keine Namen.«
Alice riss die Augen auf. »Soll das heißen, ich muss mir Sands’ Ausleihkarte besorgen, und da steht dann nichts weiter drauf als lauter Nummern? Keine Titel?«
»Genauso ist es. Wenn Sie wissen wollen, wie ein Buch heißt, müssen Sie anhand der Titelnummer die Karteikarte zum Buch suchen.«
»Aber das ist doch ein völlig sinnloses System. Da braucht man ja ewig, bis man was findet.«
Devlin zuckte scheu die Achseln. »Zeit ist hier drin ja nicht so das Problem, Ma’am. Wir müssen uns nicht beeilen, im Gegenteil. Sonst hat man bloß noch mehr Zeit totzuschlagen.«
Dazu fiel Alice keine Erwiderung ein. »Also schön.« Sie warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr. »Dann legen wir mal los. Wo bewahren Sie die Ausleihkarten auf?«
»In Karteikästen hinter der Ausleihtheke, Ma’am. Im Lesesaal.«
»Wenn das so ist, rufen Sie mal besser die Wache. Wenn Ihr System wirklich so funktioniert, wie Sie beschrieben haben, dann kann ich von hier aus nichts machen.«
Officer Toledo war ganze dreißig Zentimeter größer als Alice und breit wie ein Kleiderschrank. Er hatte einen buschigen, teilweise ergrauten Schnurrbart, dünne Lippen, einen rasierten Schädel und Koteletten, bei deren Anblick Elvis neidisch geworden wäre. Er eskortierte Alice und Devlin in den Lesesaal und bezog dann links neben der Ausleihe, vier Schritte von der Tür entfernt, Position. Die Art und Weise, wie sein Blick immer wieder zu ihr wanderte, war Alice sehr unangenehm.
Der Lesesaal verfügte über rund einhundert Sitzplätze, allerdings saßen jetzt nur eine Handvoll Häftlinge an den Resopaltischen und Pulten, alle in unterschiedlichen Ecken des Raums. Wie in einer Szene aus einem alten Western hielten beim Eintreten der drei alle abrupt in ihrer Beschäftigung inne und hoben genau zur selben Zeit die Köpfe, um Alice anzustarren. Ein leises Murmeln schwappte durch den Raum. Alice hatte keinerlei Interesse daran, zu erfahren, was die Männer sagten.
»Was für Bücher haben Sie denn hier so?«, erkundigte sie sich stattdessen bei Devlin.
»Ein bisschen von allem, Ma’am, außer Kriminalliteratur. So was führen wir gar nicht – keine Krimis, keine Thriller, keine Sachbücher über Kriminalistik, nichts.« Er wagte ein zaghaftes Lächeln. »Als würde das noch einen Unterschied machen. Dafür haben wir aber eine große Auswahl an religiösen Büchern und Schulbüchern – Mathe, Geschichte, Geografie … all so was. Hier kann jeder lesen lernen oder seinen Schulabschluss nachmachen, wenn er will. Die meisten wollen aber nicht. Außerdem haben wir eine große und ziemlich aktuelle Sammlung juristischer Bücher.«
»Und was für Bücher hat Ken gelesen?«
Devlin kratzte sich leise lachend am Kinn. »Alles. Er war ein schneller Leser. Aber am liebsten Fachbücher. Er hat Fernkurse belegt – richtig schwierige, wie auf dem College, wissen Sie? Er hatte was im Köpfchen. Wegen der Kurse durfte er sich auch eigene Bücher zum Lernen bestellen, die wir nicht im Bestand hatten. Wenn er mit ihnen fertig war, kamen sie hier in die Bibliothek, weil der Staat sie ja bezahlt hatte. Aber nach ihm hat sie nie mehr jemand ausgeliehen.« Devlin hielt inne, verzog das Gesicht und fuhr sich mit der Hand durch die stoppeligen Haare. »Es gab aber auch Bücher, die er nur hier im Lesesaal gelesen hat, da drüben in der Ecke.« Er zeigte auf ein Pult am hintersten Ende des Saals. »Die er nicht ausgeliehen hat. Wenn die Bücher nur hier drin gelesen werden, stehen sie natürlich nicht auf der Ausleihkarte.«
Alice nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte.
Devlin zeigte Alice, wie die Karteikarten geordnet waren und wo sie aufbewahrt wurden – in einem langen Holzschrank, der die gesamte Breite der Wand einnahm. Alice hatte bereits damit begonnen, im Kopf die Reihenfolge der notwendigen Arbeitsschritte festzulegen. »Haben Sie auch Bücher über Medizin?«
»Ja, haben wir«, lautete Devlins Antwort. »Ein paar. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.«
Sie verließen den Ausleihbereich und durchquerten den Lesesaal. Officer Toledo war die ganze Zeit drei Schritte hinter ihnen. Erneut sahen die Häftlinge von ihren Tischen auf. Getuschel kam aus jeder Ecke, aber auch diesmal tat Alice so, als würde sie nichts hören.
Sie gingen weiter bis zu einem Regal ganz hinten.
»Das hier ist unsere Medizin-Abteilung«, sagte Devlin und deutete auf ein paar Bücher im obersten Regal. Insgesamt waren es vierundzwanzig Bücher. Alice merkte sich die Spanne der Katalognummern. »Der einzige Grund, weshalb wir die Bücher überhaupt haben, ist, dass Ken sie für einen seiner Kurse gebraucht hat«, erklärte Devlin.
Alice bat ihn, ihr noch zwei weitere Abteilungen zu zeigen – Psychologie und Kunst. Auch deren Nummernbereiche prägte sie sich ein.
»Okay, dann brauche ich jetzt bloß noch einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier, und ich kann loslegen.«
»Ich kann Ihnen einen Bleistift geben.«
»Das geht auch.«
Sie kehrten in den vorderen Bereich der Bibliothek zurück. Devlin ging hinter die Ausleihtheke und reichte Alice einige Blatt Papier sowie einen Bleistift. Dann zeigte er ihr den Schubkasten, in dem sie Ken Sands’ Ausleihkarten finden konnte, und überließ sie ihrer Arbeit.
Ken Sands hatte insgesamt zweiundneunzig Ausleihkarten, und alle waren von oben bis unten vollgeschrieben. Er musste zu jener Sorte Mensch gehören, die pro Tag ein Buch verschlingen. Devlin hatte es ja bereits gesagt: An Zeit mangelte es einem Häftling gewiss nicht, und wie es aussah, hatte Sands jede freie Sekunde seiner Zeit zum Lesen genutzt. Alice würde Ewigkeiten brauchen, um alle Karten durchzusehen. Sie zögerte einen Moment, während sie darüber nachgrübelte, was die einfachste und schnellste Vorgehensweise wäre. Schließlich hatte sie eine Idee und begann sich Katalognummern zu notieren.
Ein Häftling mit rasiertem Schädel, der bis dahin still an dem Tisch ganz in der Nähe der Ausleihtheke gesessen hatte, kam zu Devlin und reichte ihm ein Buch.
»Das ist ziemlich gut, Toby. Wird dir bestimmt gefallen.« Alice war viel zu sehr mit ihren Nummern beschäftigt, um zu merken, wie Devlin unauffällig ein Stück Papier zwischen die Buchseiten schob. Wenn jemand in der Lage war, eine Nachricht aus dem Gefängnis nach draußen zu schmuggeln, dann Toby.
Polizisten waren nicht die Einzigen, die zusammenhielten.
Viele Kenner behaupten, dass der wahre Whiskyliebhaber sein Getränk mit ein wenig Wasser, idealerweise Quellwasser, zu sich nimmt. Die Zugabe von Wasser verhindert, dass der Alkohol die Geschmacksknospen betäubt und einen so um den vollen Genuss bringt. Außerdem hebt Wasser Aroma und Geschmack des Whiskys und bringt seine verborgenen Noten besser zur Geltung. Eine weit verbreitete Faustregel ist, dass man seinen Whisky mit einem fünften Teil Wasser verdünnen sollte. Für diejenigen, die ihren Whisky mit Eis trinken, haben Connaisseurs hingegen nur Verachtung übrig, da das Absenken der Temperatur das Aroma abtötet und das Geschmackserlebnis schmälert.
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