Hunter enthielt sich eines Kommentars.
Cassidy fuhr fort. »Er hat in Pico Rivera seinen eigenen Tempel oder seine Gemeinde oder wie auch immer man das nennen will. Ich persönlich würde das ganz einfach als Sekte bezeichnen. Sie nennen sich Soldiers for Jesus , zieh dir das rein. Klingt wie ein Terrornetzwerk. Würde mich nicht wundern, wenn er jetzt junge Frauen davon überzeugt, dass sie sich ihm hingeben müssen, wenn sie in seinen Club aufgenommen werden wollen. Wahrscheinlich redet er ihnen ein, dass er der neue Messias ist und den Willen des Herrn erfüllt. Wenn er im Knast irgendwas gelernt hat, dann wie man am besten das Gesetz umgeht.«
»Hast du auch was darüber rausgefunden, wo er an den Tagen war, die ich dir genannt habe?«, wollte Hunter wissen.
»Ja. Und sosehr ich den Kerl auch hasse, er kann nicht euer Mann sein. Am ersten Datum – dem 19. Juni – war Escobedo gar nicht in Los Angeles. Da hat er in San Diego einen Gottesdienst abgehalten. Er hat Expansionspläne für die Soldiers of Jesus . Am zweiten Datum, dem 22. Juni, war er den ganzen Tag damit beschäftigt, zwei CDs und eine DVD aufzunehmen. Die verkauft er an seine Anhänger. Er hat Dutzende von Zeugen, die das bestätigen können. Escobedo ist ein Abgrund aus Lügen, stinkender Scheiße und Gotteslästerei, aber er ist nicht euer Killer, Robert.«
Hunter nickte. Die Dienstvorschrift verlangte, dass er jedem Hinweis nachging, aber er hatte Escobedo von Anfang an nicht für einen Verdächtigen gehalten. Als Psychologe und später als Detective beim Raub-und Morddezernat hatte Hunter unzählige Mörder studiert, verhört und festgenommen, und im Laufe der Jahre war er zu der Erkenntnis gelangt, dass es nicht viel gab, was einen Mörder von einem ganz normalen Menschen unterschied. Er war Mördern begegnet, die ein attraktives Äußeres und ein freundliches, einnehmendes Wesen hatten. Mördern, die aussahen wie liebe, alte Großväter. Sogar Mördern mit starker erotischer Ausstrahlung. Der wahre Unterschied zeigte sich erst, wenn man tief in ihre Psyche hineinblickte. Aber es gab unterschiedliche Arten von Kriminellen – und unterschiedliche Arten von Mördern. Escobedo war ein Sexualstraftäter – das Niedrigste vom Niedrigsten. Sicher, er war gewaltbereit, aber sein primäres Interesse lag darin, seine sexuelle Begierde zu befriedigen. Er hatte seinen Opfern nie über längere Zeit hinweg nachgestellt, sondern sie sich einfach dort gegriffen, wo immer er sich zum fraglichen Zeitpunkt gerade aufhielt. Hunter wusste, dass Verbrecher wie er nur in sehr seltenen Fällen ihre Handschrift änderten. Selbst wenn Rache das Motiv war, hätte Escobedo sein Opfer höchstwahrscheinlich erschossen oder erstochen und sich danach so schnell wie möglich vom Tatort entfernt, statt sein Opfer in stundenlanger Kleinarbeit zu zerlegen und groteske Skulpturen aus seinen Gliedmaßen zu formen, von denen jede noch dazu eine tiefere Bedeutung in Form eines versteckten Schattenbildes hatte. Nein, Escobedo hatte weder das Wissen noch die Geduld, den Intellekt oder die Kaltblütigkeit, ein solches Verbrechen zu begehen.
»Hervorragende Arbeit, Terry, danke«, sagte Hunter, bevor er sein Handy zuklappte und es zurück in die Tasche steckte. Er gab die Neuigkeiten an Garcia weiter, und beide tranken schweigend ihre Gläser aus. Als sie aufstanden, um zu gehen, kam die große Blondine gerade von der Toilette zurück und steuerte ihren Tisch an.
»Tut mir leid wegen eben«, sagte sie zu Hunter. Auf einmal klang ihre Stimme nicht nur sehr charmant, sondern hatte sogar einen verführerischen Unterton angenommen. »Und danke noch mal.«
Garcias Miene war ein Bild für die Götter. »Das glaub ich jetzt nicht«, zischte er verdattert.
»Kein Problem«, wiegelte Hunter ab.
»Ich weiß, dass ich hochnäsig rübergekommen bin«, fuhr die Frau fort. Ihr Lächeln wirkte künstlich und einstudiert. »Ich bin nicht immer so. Aber an Orten wie diesem muss man als Frau vorsichtig sein, das verstehen Sie doch?«
»Wie gesagt, kein Problem.« Hunter drückte sich an ihr vorbei. »Einen schönen Abend noch.«
»Warten Sie mal«, rief sie scheu, als er sich schon von ihr abgewandt hatte. »Ich muss jetzt nach Hause und versuchen, das irgendwie wieder hinzukriegen, aber vielleicht könnten wir ja ein andermal was zusammen trinken gehen.« Mit einer geschickten Bewegung schob sie Hunter eine gefaltete Serviette hin. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« Sie beendete ihren Auftritt mit einem neckischen Augenzwinkern und verließ die Bar.
»Das glaub ich einfach nicht«, murmelte Garcia erneut.
Es war Freitagabend, und das Airliner am North Broadway war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Der große, exklusive Danceclub mit Lounge war – getreu seines Namens und nicht unbedingt einfallsreich – in einem Flugzeug-Dekor gehalten, allerdings erwartete die Gäste eine wesentlich gehobenere Auswahl alkoholischer Getränke als auf einem Flug der US Airways. Mit seinen zwei großen und gut bestückten Bars, einer Tanzfläche, auf der immer die Post abging, einem plüschigen Lounge-Bereich und einigen der heißesten DJs in ganz L. A. zählte das Airliner ohne Zweifel zu den besten Clubs der Stadt und zog eine bunte Mischung aus Einheimischen wie Touristen an. Genau das war der Grund, weshalb Eddie Mills an diesem Abend hier war.
Eddie war ein zwielichtiger Kleinganove, der in Redondo Beach mit anderthalb Kilo Kokain im Auto erwischt worden war. Im Gefängnis hatte er Guri Krasniqi, einen albanischen Gangsterboss, kennengelernt. Krasniqi saß lebenslänglich, regierte sein Imperium aber aus dem Knast heraus weiter und hatte Eddie, als dieser vor zwei Jahren aus dem kalifornischen Staatsgefängnis in Lancaster entlassen worden war, mit einigen seiner Leute in Kontakt gebracht.
Eddie stand an der Bar im Obergeschoss und schlürfte Champagner. Er war so sehr in den Anblick einer kurzhaarigen Brünetten vertieft, die gerade die Tanzfläche zum Beben brachte, dass er den kleinen untersetzten Mann, der sich neben ihn an die Theke gestellt hatte, zuerst gar nicht bemerkte.
»Meine Güte!« Eddie erschrak zu Tode, als plötzlich eine schwere Hand auf seiner Schulter landete.
»Eddie! Was geht?«
Eddie drehte sich um und musterte den Mann mit dem kahlrasierten Schädel. »Tito?« Er blinzelte, als könne er seinen Augen nicht trauen. »Verdammt, Alter, was machst du denn hier?« Eddies Lippen verzogen sich zu einem Lächeln voller blendend weißer Zähne. Er breitete die Arme aus.
Tito erwiderte das Lächeln, und sie umarmten sich wie Brüder, die sich eine Ewigkeit lang nicht gesehen hatten.
»Mann, wann bist du denn rausgekommen?«, wollte Eddie wissen.
»Vor sieben Monaten. Auf Bewährung.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst, Alter.«
»Und wie geht’s dir so, du Hund?« Eddie machte einen Schritt zurück und musterte seinen Freund. »So wie du aussiehst, ganz gut. Wo wohnst du, in einer Konditorei?«
»Ein Mann muss essen.«
»Ja, das sehe ich. Und ein Mann muss vor allem aufhören zu essen, bevor er platzt.«
»Leck mich doch. Wenigstens muss ich nicht mehr den Fraß in mich reinschaufeln, den sie uns in Lanc vorgesetzt haben.«
»Darauf trinke ich.« Eddie hob sein Glas.
»Was ist denn das?« Tito machte ein beeindrucktes Gesicht. »Champagner? Im Ernst? Na, da lässt es aber jemand krachen.«
»Hey, Mann, nur das Beste. Hier, nimm auch was.« Eddie winkte dem Barkeeper und bat ihn um eine zweite Champagnerflöte.
»Du siehst top aus«, sagte Tito und erhob sein Glas für einen Toast. »Auf die Freiheit. Und darauf, dass wir nie wieder reinmüssen.«
Eddie nickte zustimmend. »Danke, Mann.« Er strich sich mit der Hand über die Krawatte. »Das ist Armani.« Er deutete auf seinen Anzug. »Kann ich gut tragen, oder?«
Читать дальше