»Hier steht, Sie wollen sich unsere Bibliothek ansehen?«, fragte Healy nach einem kurzen Blick auf ein Blatt Papier, das er mitgebracht hatte.
»Ja, das stimmt.«
»Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«
Alice sah ihn an.
»Geht mich nichts an, was?« Healy grinste. »Alles klar. Folgen Sie mir.« Er führte Alice durch die Hintertür aus dem Empfangsgebäude hinaus und über eine dreispurige Straße. Sie befanden sich jetzt innerhalb des Gefängnisareals. Hinter ihnen ragte die nördliche Gefängnismauer auf. Sie war über eine halbe Meile lang, und alle zweihundert Meter gab es einen bemannten Wachtturm. Lancaster war auf zweitausenddreihundert Häftlinge ausgelegt, beherbergte aber mehr als doppelt so viele. Es gab Gefangene der Sicherheitsstufen I bis IV – Stufe IV bezeichnete die höchste Sicherheitsstufe in kalifornischen Justizvollzugsanstalten mit Ausnahme der Todeskandidaten. Das kalifornische Staatsgefängnis in Lancaster zu bewachen war keine leichte Aufgabe.
Sie erreichten das erste Gefängnisgebäude, einen rechteckigen, zweigeschossigen Klotz aus Stahl und Beton. Healy zog seinen Sicherheitsausweis durch den Schlitz in der Tür und tippte dann eine achtstellige Ziffernfolge ein. Die schwere Metalltür öffnete sich unter lautem Summen und Klicken. Drinnen kamen sie an weiteren bewaffneten Wärtern vorbei, die allesamt dafür konstruiert schienen, einem Erdbeben der Stärke acht standzuhalten. Schweigend liefen Healy und Alice durch die Gänge. Healy nickte jedes Mal kurz, wenn sie einer anderen Wache begegneten. Schließlich verließen sie auch dieses Gebäude und gelangten in einen offenen Verbindungsgang.
»Die Bibliothek ist im Keller von Block F«, gab Healy Auskunft. »Es gibt einen wesentlich schnelleren Weg, aber dazu müssten wir übers innere Gelände gehen, und da halten sich Häftlinge auf. Ich versuche uns beiden die Sache so leicht wie möglich zu machen.«
Nach etwa drei Minuten hatten sie die Eingangstür zu Block F erreicht, wo Healy den Vorgang mit seinem Ausweis und der Eingabe des Zahlencodes wiederholte. Einzige Lichtquelle waren durch Käfige aus Maschendraht geschützte Leuchtröhren an der Decke. Sie bogen nach links in einen langen Gang ein. Ein Häftling im orangefarbenen Overall war gerade dabei, den Boden in der Nähe der Treppe zu wischen. Seine braungebrannten, muskulösen Arme zierten zahlreiche Tätowierungen und Narben. Er hielt inne und trat zur Seite, um Alice und Healy vorbeizulassen. Der Korridor erstrahlte in einem solchen Glanz, dass Alice sich unwillkürlich fragte, ob der Häftling, sobald er mit dem Wischen fertig war, zurückging und wieder von vorne anfing und immer so weiter von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
»Vorsicht mit dem Fußboden, Boss, der ist ein bisschen rutschig«, sagte der Häftling. Er zog dabei den Kopf ein, und sein Blick war zu Boden gerichtet.
Die Bibliothek war größer, als Alice erwartet hatte. Sie nahm das gesamte Untergeschoss ein. Healy nickte dem bewaffneten Wachtposten am Eingang zu und führte Alice in einen kleinen Nebenraum.
»Bitte setzen Sie sich, ich hole den Bibliothekar. Der hilft Ihnen bei allem, was Sie brauchen.«
Der Raum, in dem Alice wartete, war eine triste, etwa sechs mal zehn Schritte große Schachtel ohne Fenster, dafür aber mit einer massiven Tür. Er war leer bis auf einen mit dem Betonboden verschraubten Metalltisch und zwei Plastikstühlen, die besser auf eine Terrasse gepasst hätten, und erfüllt von dem beißenden Geruch starker Bleiche. Von diesem Geruch abgesehen erinnerte der Raum Alice an die Verhörzellen, die sie im PAB gesehen hatte. Nur der Spiegel an der Wand fehlte.
Eine Minute verstrich, ehe Healy in Begleitung eines Mannes zurückkam, der halb so groß und doppelt so alt war wie er. Die wenigen weißen Haare, die der Mann noch auf dem Kopf hatte, waren kurz und sauber geschnitten. Sein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht, die ihm etwas Trauriges verliehen und von einem größtenteils in Gefangenschaft verbrachten Leben zeugten. Auf der Spitze seiner nach mehreren Brüchen krummen Nase saß eine Lesebrille. Seine Augen sahen aus, als wären sie früher einmal hart und gemein gewesen, doch jetzt schauten sie nur noch müde und resigniert in die Welt. Auch er trug einen orangefarbenen Häftlingsoverall.
»Unser Bibliothekar hat sich heute krankgemeldet. Das hier ist Jay Devlin, der Bibliotheksassistent«, erklärte Healy. »Er macht das schon seit neunzehn Jahren und weiß alles, was es über die Bibliothek zu wissen gibt. Wenn er Ihnen nicht helfen kann, dann kann es keiner.«
Devlin nickte höflich zur Begrüßung, gab Alice jedoch nicht die Hand. Er ließ die Arme herabhängen und hielt den Kopf gesenkt.
Healy instruierte Devlin. »Wenn sie in den Lesesaal gehen muss, ruf Officer Toledo, der begleitet euch dann, verstanden? Ich will nicht, dass sie auf eigene Faust da rumläuft.«
»Alles klar, Boss.« Devlins Stimme war nur unwesentlich lauter als ein Flüstern.
»Falls Sie aufs Klo müssen«, sagte Healy, nun wieder an Alice gewandt, »kommt Officer Toledo mit und kontrolliert, ob frei ist, bevor Sie reingehen. Wir haben hier keine extra Räumlichkeiten für Damen, die gibt’s nur im Besucherblock. Wenn Sie hier fertig sind, ruft Jay oben an, ich komme dann und hole Sie ab.«
»Jawohl, Boss«, antwortete sie mit einem Nicken. Es juckte sie, vor ihm zu salutieren, aber sie beherrschte sich.
Healys Augen verengten sich, und er bedachte sie mit einem Blick, der Milch zum Gerinnen gebracht hätte. »Ich hoffe, unsere Bibliothek entspricht Ihren Erwartungen«, sagte er noch, bevor er ging und die Tür hinter sich zuschlagen ließ.
»Er ist wohl nicht so der Mann für Scherze, was?«, fragte Alice.
»Nein, Ma’am«, sagte Devlin. Seine Körperhaltung drückte Befangenheit aus. »Die Schließer hier mögen keine Witze, es sei denn, sie gehen auf unsere Kosten.«
»Ich bin Alice.« Sie streckte ihm die Hand hin.
»Ich bin Jay, Ma’am.« Auch diesmal machte er keine Anstalten, ihr die Hand zu schütteln.
Alice trat einen Schritt zurück. »Mein Anliegen ist eigentlich ganz simpel. Ich brauche eine Liste aller Bücher, die ein bestimmter Ex-Häftling aus der Bibliothek entliehen hat.«
»In Ordnung.« Devlin nickte und sah ihr zum ersten Mal ins Gesicht. »Das dürfte nicht weiter schwer werden. Haben Sie die Nummer des Häftlings?«
»Ich habe seinen Namen.«
»Kein Problem, damit kann ich auch was anfangen. Wie heißt er?«
»Ken Sands.«
Devlins Lider zuckten kurz.
»Sie kannten ihn?«
Devlin nickte und fuhr sich zweimal hastig mit der Hand über Mund und Kinn. »Ich kenne jeden Häftling, der hierherkommt, Ma’am. Ich arbeite hier, seit es die Bibliothek gibt. Jeder Zellenblock hat einen festen Termin in der Woche, wann die Insassen kommen und die Bibliothek nutzen dürfen. Es ist nicht gut, wenn sich Leute aus den verschiedenen Blocks mischen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber nur die wenigsten nehmen das Angebot wahr. Eine Schande, wenn Sie mich fragen. Nur Ken hat so gut wie nie eine Gelegenheit ausgelassen. Er war ein echter Büchernarr. Wollte immerzu lernen. Er war öfter hier als jeder andere.«
»Das ist gut. Dann sollten wir ja keine größeren Schwierigkeiten haben.«
»Kommt drauf an. Wie viel Zeit haben Sie denn mitgebracht, Ma’am?«
Alice lächelte schief. »Hat er so viel gelesen?«
»Wahnsinnig viel, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist unser System. Wir haben erst zu Beginn des Jahres damit angefangen, alles auf Computer umzustellen. Das dauert. So lange müssen wir für die Ausleihe und die Katalogisierung noch das alte Karteikarten-System benutzen. Keine Computer.« Devlin wiegte den Kopf hin und her. »Für mich ist das ganz gut. Wenn das neue System startklar ist, muss ich mir eine andere Beschäftigung suchen. Ich hab’s nicht so mit diesem elektronischen Schnickschnack, Ma’am.«
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