Das war zu viel für Karen. Sie rastete aus und ging auf Rick los, zielte mit der Harpune auf sein Gesicht. »So etwas sagst du nicht zu mir, du nicht.«
»Ganz ruhig, Baby.« Rick wich mit erhobenen Händen zurück.
Karen warf ihm die Harpune vor die Füße. »Da, nimm sie!«
Peter trat zwischen die beiden. »Hey, wir sind ein Team! Ihr zwei hört sofort zu streiten auf!«
Karen reagierte leicht vergrätzt. »Ich habe mit Rick nicht gestritten. Hätte ich das getan, würde er sich jetzt seine wertvollsten Teile halten und die Seele aus dem Leib kotzen.«
Peter Jansen ging weiterhin voran. Mit der Machete räumte er unermüdlich alle möglichen Hindernisse beiseite. Ab und zu hielt er kurz an, um die Schneide mit dem Diamantschärfer zu schleifen. Die Klinge konnte alles durchtrennen, solange man ihre Schneide immer schön scharf hielt. Er versuchte, die anderen bei Laune zu halten. »Wisst ihr, was Robert Louis Stevenson über das Reisen gesagt hat?«, rief er nach hinten. »Er sagte: ›Es ist besser, hoffnungsfroh zu reisen, als anzukommen.‹«
»Scheiß auf die Hoffnung, ich würde lieber ankommen«, meinte Danny Minot.
Während er ganz am Schluss dahinmarschierte, schaute sich Rick Hutter nacheinander die anderen an und machte sich seine Gedanken. Zuerst nahm er sich Karen King vor. Er konnte sie echt nicht ausstehen. Sie war eingebildet, arrogant, aggressiv und hielt sich für die absolute Expertin für Spinnen, Arachniden und alle Arten von Kampfsport. Sie sah gut aus, aber Schönheit war nicht alles. Trotzdem war es ihm nicht unrecht, dass Karen zur Gruppe gehörte. Sie war eine Kämpferin, das musste man neidlos zugeben. Gerade jetzt schien sie eiskalt, wachsam und immer auf dem Sprung zu sein und jeden ihrer Schritte abzuwägen. Als ob sie um ihr Leben kämpfen würde … was sie natürlich auch tat. Er verabscheute sie, und doch … war er froh, dass sie dabei war.
Als Nächstes betrachtete Rick Erika Moll. Sie war blass und verängstigt. Sosehr sie sich zusammennahm, erkannte Rick doch, dass sie am Rand eines emotionalen Zusammenbruchs stand. Diese Pilzfäden, die Jens Körper verschlangen, hatten Erika zutiefst verstört, glaubte Rick. Wenn sie sich nicht bald wieder fing, war sie vielleicht dem Untergang geweiht. Aber wer konnte schon sagen, wer von ihnen die Stärke und Schläue besaß, um lebend aus diesem Reich der winzigen Schrecken herauszukommen?
Amar Singh schien sich dagegen mit seinem Schicksal abgefunden zu haben, als ob er bereits entschieden hätte, dass er sterben würde.
Danny Minot stapfte in seinen zusammengeklebten Schlappen den Weg entlang. Dieser Bursche ist zäher, als er aussieht, dachte Rick, während er Danny beobachtete. Er könnte zu den Überlebenden gehören.
Dann schaute Rick Peter Jansen an. Wie machte Peter das nur? Er erschien so ruhig, beinahe sanft und war auf eine tief schöpfende Art mit sich im Reinen, die Rick nicht ergründen konnte. Peter Jansen war zu einem echten Anführer geworden, und das passte gut zu ihm. Es war, als ob Peter Jansen in dieser Mikrowelt zu sich selbst gefunden hätte.
Und dann war da noch Rick Hutter selbst.
Rick war kein reflektierender Mensch. Er dachte kaum je über sich nach. Jetzt tat er es. Etwas ganz Seltsames ging hier mit ihm vor, das er nicht ganz verstehen konnte. Er fühlte sich gut. Warum, fragte er sich, fühle ich mich gut? Ich müsste mich doch schrecklich fühlen. Jenny ist tot. Kinsky wurde von Ameisen zerrissen. Und wer ist der Nächste? Aber das war die Expedition, von der Rick Hutter immer geträumt hatte, die er aber nie für möglich gehalten hatte. Eine Reise in das verborgene Herz der Natur, in eine Welt der noch nie gesehenen Wunder.
Aller Wahrscheinlichkeit nach würde er auf dieser Forschungsreise sterben. Die Natur war nicht gütig oder nett. Sie kannte kein Mitleid. Man bekam keine Fleißpunkte, weil man es versucht hatte. Entweder überlebte man oder man starb. Vielleicht wird es keiner von uns schaffen. Er fragte sich, ob er hier in einem kleinen Tal in der Umgebung von Honolulu einfach so verschwinden und in einem Labyrinth beinahe unvorstellbarer Bedrohungen verschlungen werden würde.
Ich muss einfach weitermachen, nahm sich Rick vor. Sei klug. Sei geschickt. Komm durch das Nadelöhr.
Nach einer Wegstrecke, die ihnen viele Kilometer lang vorgekommen war, bemerkte Rick einen seltsamen, bittersüßen Geruch, der hier überall in der Luft schwebte. Was war das nur? Er schaute nach oben und sah dort winzige weiße Blüten, die wie Sterne über einen Baum verstreut waren, der gabelteilige Zweige und eine glatte, schwarzgraue Rinde hatte. Der ansonsten süße Geruch dieser Blüten wies eine unangenehme Note auf, die auf etwas Gefährliches hindeutete.
Ja, das war es.
Nux vomica. Brechnuss.
Rick rief den anderen zu, sie sollten anhalten. »Wartet mal, Leute. Ich habe etwas gefunden.«
Er kniete sich zu einer knorrigen Wurzel hinunter, die aus dem Boden herauslugte. »Das ist ein Strychninbaum«, erklärte er dem Rest der Gruppe. Mit seiner Machete begann er, auf die Wurzel einzuhacken, bis er einen Streifen Innenrinde freigelegt hatte, den er jetzt sorgfältig mit der Machete herausschlug. »Diese Rinde«, erklärte er, »enthält Brucin. Das ist ein Stoff, der zu Atemlähmung führt. Ich hätte eigentlich die Samen vorgezogen, die sind unglaublich toxisch, aber diese Rinde tut’s auch.«
Er band ein Seil um die Rinde, damit er sie hinter sich herziehen konnte. Dabei passte er sorgfältig auf, nichts von ihrem Saft auf die Hände zu bekommen. »Wir können das nicht in meinen Rucksack tun. Es würde alles darin vergiften«, erklärte er.
»Diese Rinde ist wirklich gefährlich«, sagte Karen.
»Wart’s ab, Karen, die wird uns etwas zum Essen verschaffen. Und ich habe wirklich Hunger.«
Erika trat ein wenig beiseite, blickte aufmerksam um sich, sog die Luft ein und achtete genau darauf, ob sie den Geruch von Ameisen ausmachen konnte. Die Luft fühlte sich irgendwie schwer an, als sie durch ihre Lungen strömte. Wo auch immer sie hinschaute, in jeder Ritze und Rinne des Bodens, auf jedem Grashalm und jeder noch so kleinen Pflanze wimmelte es nur so von kleinen Lebewesen – Insekten, Milben, Nematoden. In einzelnen Erdklumpen konnte sie sogar als kleine Pünktchen Bodenbakterienhaufen sehen. Alles hier lebte. Alles hier ernährte sich von irgendetwas anderem. Das erinnerte sie daran … sie war wirklich hungrig.
Sie alle hatten jetzt einen Bärenhunger, aber nichts zu essen. Sie tranken noch etwas Wasser aus einem Loch in einer Baumwurzel und gingen weiter. Rick zog das Stück Rinde hinter sich her. »Wir haben jetzt Strychnin, und wir haben diese Frucht vom Paternosterbaum«, sagte er. »Aber das reicht noch nicht. Wir brauchen wenigstens noch eine weitere Zutat.« Er schaute sich ständig um und überprüfte die Vegetation nach Pflanzen, die er kannte und die giftig waren. Schließlich fand er, wonach er suchte. Plötzlich stach ihm nämlich ein scharfer Geruch in die Nase.
»Oleander«, rief Rick und ging auf eine Buschgruppe mit langen, lanzettförmigen, ledrigen, glänzenden Blättern zu. »Der Saft ist wirklich bösartig.« Nachdem er sich durch eine Menge Blätterabfall hindurchgekämpft hatte, kam er am Stamm eines Busches an. Er zog seine Machete, schärfte sie und hackte mit ihr in den Stamm. Sofort floss ein durchsichtiger, milchiger Saft heraus, während Rick sich blitzschnell etwas zurückzog.
»Diese Flüssigkeit tötet dich sofort, wenn sie deine Haut berührt. Sie enthält eine tödliche Mischung von Cardenoliden. Dein Herz hört sofort zu schlagen auf, bamm. Die Dämpfe sollte man auch nicht einatmen. Sie können einen Herzanfall auslösen.« Während die Flüssigkeit die Rinde hinunterfloss, kramte Rick in seinem Rucksack und holte die Laborschürze, die Gummihandschuhe und die Schutzbrille heraus, die er in der Station Echo gefunden hatte.
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