Erika Moll hielt an, um eines von ihnen zu untersuchen. Sie hob es auf und hielt es in die Höhe, während es seinen Hinterleib wild hin und her bewegte und dabei kräftige Klicklaute von sich gab.
»Was sind das für Wesen?«, fragte Rick und zog sich eines aus den Haaren.
»Sie heißen Springschwänze«, sagte Erika Moll. In der normalen Welt seien diese Springschwänze extrem klein. »Nicht größer als das i-Pünktchen auf einer Buchseite«, erklärte sie. Das Tier habe in seinem Abdomen einen Sprungmechanismus, mit dessen Hilfe es weite Sprünge vollführen und damit seinen Fressfeinden entkommen könne. Erika setzte eines von ihnen auf ihre Handfläche und berührte es. Das Tier schleuderte sich aus ihrer Hand und stieg hoch in die Luft, um dann hinter einem Farn außerhalb ihres Sichtfelds zu landen.
Als sie weitergingen, sahen sie jetzt immer wieder, wie sich durch ihre Schritte aufgeschreckte Springschwänze durch einen wilden Sprung aus der Gefahrenzone brachten. Peter Jansen ging weiterhin an der Spitze. Er war schweißgebadet. Ihm wurde klar, dass ihre kleinen Körper sehr schnell Flüssigkeit verloren.
»Wir müssen darauf achten, immer genug zu trinken«, teilte er den anderen mit. »Sonst könnten wir ganz schnell austrocknen.« Sie sammelten sich um einen Moosklumpen, in dem zahlreiche Tautröpfchen hingen. Sie benutzten sie jetzt als Wasserspender, wobei sie ihre Hände als Trinkgefäß verwendeten. Die Wasseroberfläche war elastisch, und sie mussten auf das Wasser schlagen, um die Oberflächenspannung zu überwinden. Als Peter etwas Flüssigkeit zum Mund heben wollte, türmte sie sich in seinen Händen zu einem Riesentropfen auf.
Sie kamen zu einem massiven Baumstumpf, der sich aus einem verschlungenen Geflecht dicker Wurzeln erhob. Als sie sich um diese herumbewegten, stach ihnen ein scharfer Geruch in die Nase. Sie hörten plötzlich klopfende, trommelnde Geräusche, die an fallenden Regen erinnerten. Peter, der sie immer noch anführte, stieg auf eine Wurzel hinauf. Von dort oben erblickte er zwei niedrige Mauern, die sich nebeneinander über den Boden schlängelten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Sie bestanden aus Erdklumpen, die von irgendeinem getrockneten Material zusammengehalten wurden.
Zwischen den Mauern war in beiden Richtungen eine Ameisenkolonne unterwegs. Die Mauern schützten also eine Ameisenstraße. An einer Stelle setzten sie sich in einem Tunnel fort.
Peter ging in die Hocke und gab den anderen das Zeichen, sie sollten anhalten. Sie bewegten sich ganz vorsichtig vorwärts, bis sie auf der Wurzel auf dem Bauch lagen und zu der Ameisenkolonne hinunterschauten. Waren diese Ameisen gefährlich? Jede von ihnen war fast so lang wie Peters Unterarm. Das war gar nicht so groß, dachte er. Er war erleichtert. Irgendwie hatte er erwartet, dass sie viel größer sein würden. Andererseits gab es wirklich eine Menge von ihnen. Zu Hunderten wuselten sie ihre Straße entlang und durch den kleinen Tunnel, den sie sich gebaut hatten.
Ihre Körper hatten eine rötlich braune Farbe und waren von stachligen Haaren bedeckt. Ihre Köpfe waren glänzend schwarz, so schwarz wie Kohle. Der Geruch der Ameisen stieg von ihrer Straße auf wie die Abgase von einer Autobahn. Es roch herb und säuerlich. Aber auch ein feiner Duftton machte sich bemerkbar. »Dieser scharfe Geruch ist Ameisensäure. Sie dient zur Verteidigung«, erklärte Erika Moll, als sie sich hinkniete, um die Ameisen genau zu beobachten.
Jenny Linn ergänzte: »Der süße Duft ist ein Pheromon. Es ist wahrscheinlich der Erkennungsgeruch der ganzen Kolonie. Die Ameisen nutzen ihn, um einander als Mitglieder derselben Kolonie zu identifizieren.«
»Das sind alles Weibchen«, fuhr Erika fort. »Alles Töchter ihrer Königin.«
Einige Ameisen trugen tote Insekten oder einzelne Insektenteile. Die Futterträger auf dieser Straße bewegten sich alle in die gleiche Richtung, nämlich nach links. »Dort liegt der Nesteingang. Dorthin bringen sie auch ihre Nahrung«, fügte Erika hinzu.
»Weißt du, was das für eine Art ist?«, fragte sie Peter.
Erika versuchte, sich an den Namen zu erinnern. »Ähm … In Hawaii gibt es keine einheimischen Arten. Alle Ameisen in Hawaii sind eingewanderte Spezies. Sie sind hier zusammen mit den Menschen angekommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das hier Pheidole megacephala sind.«
»Haben die auch einen nichtlateinischen Namen?«, fragte Rick. »Du weißt doch, dass ich nur ein ignoranter Ethnobotaniker bin.«
»Man nennt sie auch Großkopfameisen«, erklärte Erika. »Sie wurden zuerst auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean gefunden, haben sich heute jedoch über die ganze Erde ausgebreitet. Auf den Hawaii-Inseln sind sie die häufigste Ameisenart. Sie kamen hier auf einem Schiff an, vielleicht sogar erst im Zweiten Weltkrieg.« Die Großkopfameise sei in letzter Zeit zu einer der schädlichsten invasiven Insektenarten auf unserem Planeten geworden. »Die Pheidole megacephala haben im Ökosystem dieser Inseln gewaltige Schäden angerichtet«, fuhr Erika fort. »Sie attackieren und töten einheimische hawaiianische Insekten. Sie haben sogar einige hiesige Insektenarten beinahe ausgerottet. Außerdem töten sie auch kleine Vogelküken.«
»Das klingt aber gar nicht gut für uns«, sagte Karen. Ein normal großes Küken war auf jeden Fall größer als sie in ihrem gegenwärtigen Zustand.
»Ich verstehe nicht, was an ihren Köpfen so groß sein soll«, wunderte sich Danny.
»Die hier sind von der kleineren Arbeiterinnensorte. Die größeren haben auch größere Köpfe.«
»Die größeren?«, fragte Danny nervös. »Wer sind denn die?«
»Die größeren sind Soldaten«, erklärte Erika. »Bei den Pheidole megacephala gibt es zwei Kasten – die ›Minors‹ und die ›Majors‹, wie sie wissenschaftlich korrekt heißen. Die ›Minors‹ sind Arbeiterinnen. Sie sind klein und zahlreich. Die ›Majors‹ sind die Krieger, die das Volk schützen. Sie sind groß, und es gibt viel weniger von ihnen.«
»Und wie sehen diese großköpfigen Soldaten aus?«
Erika zuckte die Achseln. »Sie haben große Köpfe.«
So viele Ameisen, und jede von ihnen schien von einer unmenschlichen Energie erfüllt zu sein. Eine Ameise allein stellte sicherlich keine Gefahr da, aber Tausende von ihnen, wenn sie dann noch aufgeregt oder hungrig waren … Trotz der Bedrohung konnten die jungen Wissenschaftler gar nicht anders, als diese Ameisen fasziniert zu beobachten. Plötzlich stoppten zwei Ameisen und betasteten gegenseitig ihre Antennen. Dann begann eine Ameise, mit dem Hinterleib zu wackeln und ein rasselndes Geräusch von sich zu geben. Die andere würgte ein Flüssigkeitströpfchen hervor, das von der ersten begierig aufgeleckt wurde. Erika erklärte, was da vor sich ging: »Sie erbettelt Futter von ihrer Artgenossin. Sie bewegt ihren Hinterleib und macht dieses kratzende Geräusch, um zu signalisieren, dass sie hungrig ist. Das ist die Ameisenversion des Hundewinselns –«
Danny unterbrach sie. »Mir erschließt sich nicht, was daran so toll sein soll, wenn eine Ameise einer anderen Essen in den Mund stopft. Lasst uns weitergehen, bitte.«
Die Ameisenstraße war nicht sehr breit. Sie hätten also leicht über sie hinüberspringen können. Sie entschieden sich jedoch dafür, den Ameisenkolonnen aus dem Weg zu gehen, statt irgendwelche Schwierigkeiten zu riskieren. »Oder möchte jemand so eine Ameise an der Hacke haben?«, fragte Peter.
Jarel Kinsky blieb stehen und schaute zu den Ästen des großen ausladenden Baums hinauf, unter dem sie gerade vorbeigingen. »Ich kenne diesen Baum«, sagte er. »Das ist ein Albesia-Baum. Auf der anderen Seite befindet sich eine Versorgungsstation, da bin ich mir ziemlich sicher.« Er kletterte auf eine Wurzel, ging ein kleines Stück auf ihr entlang und sprang dann wieder herunter. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, wir sind schon ganz in der Nähe.« Kinsky übernahm jetzt die Führung und begann, links um den Albesia-Baum herumzugehen. Er bahnte sich seinen Weg durch tote Farnblätter und schlug mit seinem Grashalm-Speer Pflanzen und Blätter beiseite.
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