Er lachte meckernd.
Fast war sie erleichtert, dass er die kleine Gemeinheit hinterhergeschickt hatte. Das war wenigstens der gute alte Kuhn.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.
»Was? Ja, sicher. Warum soll es mir nicht gut gehen. Aber ich, äh… werde jetzt schlafen, Sie haben Recht. Vier Uhr, mein Gott. Dämliche Staufer.« Eine kurze Weile rauschte es in der Leitung. »Ich glaube, ich bin heute nicht so ganz bei mir. Musste zu viel überbrücken in letzter Zeit. Also seid so gut und fallt mir nicht weiter auf die Nerven, okay?«
»Okay. Okay!«
»Wo seid ihr überhaupt?«
»Auf dem Weg zum Hotel.«
»Klopft bloß nicht an. Sonst gibt’s Dresche.«
»Schon gut.«
»Bis… ja, bis morgen irgendwann. Wir können ja mal telefonieren, ich habe das Handy mit.«
»Alles klar.«
Sie unterbrach die Verbindung und starrte nachdenklich auf den kleinen Bildschirm. Nach einigen Sekunden erlosch die Beleuchtung.
»Und?«, wollte O’Connor wissen.
»Er hat nicht angerufen.« Sie stockte. »Klang irgendwie nicht gut. Sie haben ihm für morgen einen Haufen Termine reingedrückt. Meinst du, wir haben ihn gekränkt mit unserer Geheimnistuerei?«
»Wir waren nicht geheimnistuerisch. Er hätte ja mitfahren können.« O’Connor grinste. »Allerdings hätte er dann drei Stunden auf den Wagen aufpassen müssen. Im Übrigen, was wären die Hotelbars dieser Welt ohne die Kuhns dieser Welt?«
»Ich weiß nicht. Er tut mir leid. Ich glaube fast, er ist ein bisschen eifersüchtig.«
»Auf mich?«
»Ihm fehlt eine Frau, das ist alles. Damit hat er’s wirklich schwer.«
O’Connor lenkte den Golf die Auffahrt zum Maritim hoch und ließ ihn weiter in Richtung Tiefgarage rollen. Vor dem Rolltor stoppte er, beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie lange und
zärtlich.
»Mach dir keine Gedanken um Kuhn«, sagte er. »Zugegeben, er ist kein Typ, dem man nur wegen seines Aussehens hinterherguckt. Aber dafür muss er auch nicht befürchten, nur wegen seines Aussehens geheiratet zu werden.«
Der Slawe nahm ihm das Nokia aus der Hand und nickte zufrieden.
»Das war gut«, sagte er. »Sehr gut.«
Kuhn sank in sich zusammen.
Warum hatte Kika nicht auf seine SMS reagiert? Sie musste die Mitteilung längst erhalten haben. Wenn die Nachricht sie nicht erreichte, war alles verloren.
Die letzten Stunden waren die Hölle gewesen. Der Slawe hatte ihn nach der unfreiwilligen Dusche im Bad arretiert und ihn die nächsten dreißig Minuten dort schmoren lassen. Das Nokia hatte er ihm abgenommen. Kuhn hatte ihn durch die Räume gehen und dort irgendwelche Dinge verrichten hören, und seine Angst, auf ewig hier eingeschlossen zu bleiben, war nur übertroffen worden von der Furcht vor dem Moment, da der Mann zurückkommen und ihn holen würde.
Als er dann endlich aus seinem Gefängnis befreit wurde, waren weder Prügel auf ihn herniedergegangen noch Schlimmeres. Der Slawe hatte ihn ins Wohnzimmer gedrängt und auf der Couch Platz nehmen heißen. Er hatte die Waffe weggesteckt, aber Kuhn zweifelte keine Sekunde daran, dass er sie schneller wieder hervorziehen konnte, als ein Mensch in der Lage war, aufzuspringen, geschweige denn wegzulaufen.
Der Mann hatte ihm Antworten abverlangt und ihm eindeutig klar gemacht, was Kuhn erwartete, sollte er auf den Gedanken verfallen, ihn hereinzulegen. Also hatte er folgsam von O’Connors abendlichem Zusammentreffen mit Clohessy erzählt und lediglich Kika mit keinem Wort erwähnt. Es war das Maximum dessen, was er an Heldenmut aufzubringen in der Lage war, aber möglicherweise konnte er wenigstens sie aus allem raushalten. Der Slawe hatte aufmerksam zugehört und am Ende ein dünnes Lächeln aufgesetzt. Ganz offensichtlich amüsierte sich der Mann über sein verzweifeltes Bemühen. Kuhn schätzte, dass er sich in den Augen des anderen ausnahm wie ein Schuljunge, der seiner Mutter mit roten Ohren etwas vorlog.
»Wirst du von jemandem erwartet?«, fragte der Slawe und zog Kuhns Handy hervor. »Wird dich jemand auf dem Ding anrufen?«
»Ich weiß nicht«, stammelte der Lektor. »Nicht heute Nacht.«
»Und wenn doch?«
Konnte er von der SMS wissen? Unmöglich. Kuhn hatte sie abgeschickt und sofort gelöscht. Im Speicher würde sich kein Hinweis darauf finden.
»Ich weiß es nicht«, wiederholte er.
Der Mann drehte das Handy nachdenklich hin und her.
»Und was ist mit O’Connor?«, sagte er gedehnt. »Und der Frau? Da wir gerade beim Thema sind, wie heißt die Frau?«
»Ich weiß…«
Erneut blickte er in die Mündung.
»Wagner!«, schrie er. »Kika Wagner. Mein Gott, bitte, ich flehe Sie an! Sie hat nichts mit alldem zu tun, sie ist meine Pressereferentin, sie weiß von gar nichts, das müssen Sie mir glauben!«
»Und du? Was weißt du?«
»Nichts. Ich schwöre, ich weiß nichts, gar nichts!«
Der Slawe schüttelte in milder Verwunderung den Kopf. Er steckte die Waffe wieder zurück und zwinkerte Kuhn zu. »Warum machst du dir das Leben unnötig schwer, Freund? Es liegt einzig an dir, was ich glaube. Warum sagst du nicht von vornherein die Wahrheit?«
»Ich versprech’s«, keuchte Kuhn. »Ich verspreche alles!«
Sein Gegenüber ging in die Hocke.
»Immerhin ein Anfang. Weiter also, was ist mit morgen? Wer würde dich vermissen?«
Kuhn spürte, wie sein Herz stehen blieb.
»Bitte«, wimmerte er. »Tun Sie mir nichts, ich…«
»Reg dich nicht auf«, sagte der Slawe beinahe sanft. »Niemand spricht davon, dir etwas zu tun. Übermorgen kann alles vorbei sein, und du hast keine Sorgen mehr.«
Er blickte Kuhn eine Weile wortlos an. Kuhn konnte die Gedanken hinter seiner Stirn förmlich vorbeiziehen sehen. Dann wies er ihn mit einer Handbewegung an aufzustehen.
»Geh wieder in die Dusche«, sagte er freundlich.
Kuhn rappelte sich hoch. Seine Beine versagten fast den Dienst. Zitternd betrat er das Bad, und der Slawe schloss ihn ein weiteres Mal ein. Diesmal kam er schon nach wenigen Minuten zurück.
»Pass auf, was wir jetzt machen«, sagte er in einem Tonfall, als ginge es darum, gemeinsam eine Party zu planen. »Wir zwei denken uns einen schönen Plan aus. Was meinst du? Für alle Eventualitäten. Zum Beispiel, was du zu sagen hast, wenn deine kleine Maschine hier mit dir sprechen will. Und wo du morgen überall sein wirst, verstehst du? Ich will, dass du gleich in der Frühe deine Leute anrufst und ihnen eine feine Geschichte erzählst, die sie glauben können.«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, lud er Kuhn einen Packen Zeug auf die Arme, Kleidungsstücke, Papiere, Ordner. Sie verließen die Wohnung. Der Slawe war nicht sonderlich bemüht, leise zu gehen. Kuhn wusste, warum. Verstohlenheit war der schnellste Weg, ertappt zu werden. Brav tappte er vor dem anderen dahin, wohl ahnend, dass jeder Versuch, wegzulaufen, zum Scheitern verurteilt wäre. Sie gingen an Kikas Golf vorbei, und Kuhn versetzte es einen Stich.
Wo war sie? Wo war O’Connor? Was, um Himmels willen, war mit den beiden passiert?
Wenige hundert Meter weiter zog ihn der Slawe am Ärmel und wies auf einen Jeep, der unter den Bäumen der Vorgebirgsstraße parkte.
»Du fährst«, sagte er.
Die ganze Strecke über hatte der Slawe schweigend neben ihm gesessen. Es gelang Kuhn, nicht gegen Bäume oder über rote Ampeln zu fahren und den Wagen in der Spur zu halten, trotz flatternder Nerven. Seine Gedanken räsonierten zwischen wilder Hoffnung und ultimativer Rückschau. Er sah Szenen seines Lebens an sich vorbeiziehen, Entscheidungswege gabelten sich, suggerierten ihm, er hätte den Verlauf des heutigen Abends vermeiden können, endeten im Leeren. Sie hatten den Rhein überquert und waren schließlich in ein kleines Industriegebiet gelangt, vorbei an Baracken, Bürogebäuden, Ladeflächen und Parkplätzen. Der Innenhof, in den sie schließlich einbogen, schien einer Spedition zu gehören. Kuhn konnte im Dunkeln die massigen Silhouetten mehrerer Lastwagen erkennen. Der Slawe bedeutete ihm zu halten und auszusteigen. Sie gingen hinüber zu einer Halle und traten ein.
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