Nach einigem Zögern sagte der Anwalt: »Darf ich ganz aufrichtig sein, Miss Roffe? Ihr Herr Vater war noch verhältnismäßig jung. Seinen Tod hat er bestimmt noch in weiter Ferne gesehen. Ich bin sicher, zu angemessener Zeit hätte er ein neues Testament aufgesetzt und jemanden dazu bestimmt, den Konzern zu übernehmen. Wahrscheinlich war er sich noch nicht schlüssig, wer das sein sollte.« Er zuckte die Schultern. »Das alles ist jetzt nur von akademischem Interesse. Tatsache ist, die Zukunft des Unternehmens, seine Führung liegen von nun an in Ihren Händen. Und Sie allein haben zu entscheiden, was zu tun ist und was nicht und wen Sie an Ihrer Seite haben wollen.« Er sah sie einen Moment forschend an. »Noch nie hat eine Frau die Geschicke von Roffe und Söhne gelenkt, aber - na ja, jedenfalls treten Sie fürs erste an Ihres Vaters Stelle. An diesem Freitag findet in Zürich eine Direktoriumssitzung statt. Können Sie daran teilnehmen?«
Sam hätte es von ihr erwartet. Ebenso der alte Samuel.
»Ja, ich werde dort sein«, verkündete Elizabeth.
Portugal
Mittwoch, 9. September, Mitternacht
Im Schlafzimmer einer kleinen Mietwohnung liefen die letzten Vorbereitungen für eine Filmszene. Das Appartement lag in einer der engen, finsteren Seitengassen von Alto Estoril. Vier Menschen befanden sich in dem Raum: außer dem Kameramann die beiden Darsteller auf dem Bett - ein Mann in den Dreißigern und ein junges Mädchen, blond, mit atemberaubender Figur. Sie trug nichts außer einem grellroten Band um den Hals. Der Mann wirkte wie ein junger Herkules, hatte die Schultern eines Ringkämpfers und einen gewaltigen Brustkorb mit ungewöhnlich glatter, unbehaarter Haut. Sein Phallus zeigte sogar in Ruhestellung ein enormes Ausmaß. Der vierte Anwesende war ein Zuschauer. Er saß im Hintergrund, trug einen schwarzen breitkrempigen Hut und eine große dunkle Sonnenbrille.
Mit fragendem Blick wandte sich der Kameramann an den Zuschauer. Der nickte. Daraufhin begann die Kamera zu surren, und die Darsteller erhielten das Kommando: »Okay, Kamera läuft.«
Der Mann kniete über dem Mädchen. Sie nahm seinen Penis in den Mund, bis er hart wurde. Dann ließ sie davon ab. »Du meine Güte, ist das Ding riesig!«
»Steck ihn ihr rein!« befahl der Kameramann.
Der Mann ließ sich auf die Frau hinabgleiten, und sein Penis verschwand zwischen ihren Beinen.
»Nun mal langsam, Schatz.« Sie hatte eine hohe, quengelige Stimme.
»Tu so, als ob’s dir Spaß macht.«
»Wie kann ich denn? Der ist doch so groß wie eine verdammte Wassermelone.«
Der Zuschauer lehnte sich vor, beobachtete jede Bewegung, als der Mann in sie eindrang. »Oh, mein Gott!« rief das Mädchen. »Das fühlt sich wunderbar an! Mach nur weiter so, Baby!«
Der Zuschauer atmete schneller. Er starrte unverwandt auf die Szene im Bett. Das Mädchen dort war bereits die dritte und noch schöner als die anderen zuvor.
Sie wand sich jetzt unter dem Riesen, stöhnte laut. »Ja, ja«, keuchte sie. »Nicht aufhören!« Sie umklammerte die Hüften des Mannes und zog ihn dichter an sich heran. Ihr Partner wurde jetzt schneller, bewegte sich in einem besessenen, hämmernden Rhythmus. Ihre Fingernägel gruben sich in seinen nackten Rücken. »O ja«, stöhnte sie, »ja, ja, ja.«
Der Kameramann sah zu dem Zuschauer hinüber. Seine Augen blitzten hinter den dunklen Gläsern. Er nickte.
»Jetzt!« rief der Kameramann dem Riesen auf dem Bett zu.
Das Mädchen hörte die Worte nicht einmal. Als ihr Gesicht sich in Ekstase verzerrte und ihr Körper konvulsivisch zu zucken begann, schlössen sich die gewaltigen Hände des Mannes um ihre Kehle. Er drückte zu, schnürte ihr den Atem ab. Voller Verwunderung starrte sie ihn an, Unverständnis, dann Panik im Blick.
Den Zuschauer überkam es: Das ist der Moment. Jetzt! Du lieber Gott! Diese von Entsetzen geweiteten Augen. Mit aller Kraft versuchte sie, das eiserne Band um ihre Kehle zu lösen, doch es war zwecklos. Es kam ihr immer noch, und die Verzückung im Orgasmus verschmolz mit den hektischen Bewegungen ihres Todeskampfs.
Der Zuschauer war in Schweiß gebadet; seine Erregung schien unerträglich. Mitten in der herrlichsten Erfüllung, die das Leben zu bieten hat, musste das Mädchen sterben. Ihre Augen starrten in die Augen des Todes. Es war einfach wundervoll.
Und dann war alles vorbei. Völlig erschöpft lehnte sich der Zuschauer zurück, sein Körper war von den konvulsivischen Zuckungen völlig ausgelaugt, der Atem kam stoßweise.
Das Mädchen hatte seine Strafe bekommen.
Der Zuschauer fühlte sich wie Gott.
Zürich
Freitag, 11. September, Mittag
Die Zentrale von Roffe und Söhne lag in einem riesigen Areal am Sprettenbach im Westen von Zürich. Der Verwaltungsbau, ein moderner Glaspalast, ragte zwölf Stockwerke hoch, daneben die Forschungslaboratorien und Fabrikationsanlagen, außerdem die Büros von Werbung, Vertrieb und Versand mit einem eigenen Eisenbahnanschluss. Hier war das Nervenzentrum des Imperiums, das sich Roffe und Söhne nannte.
Die Empfangshalle spiegelte nackte Modernität wider, in Grün und Weiß, mit dänischem Mobiliar ausgestattet. Hinter einem Glastisch saß die Empfangsdame, und nur wer von ihr in die inneren Gefilde eingelassen wurde, durfte sich dort unter den Argusaugen eines Führers bewegen. Rechts vom Empfang lagen die Fahrstühle, darunter ein Express-Lift nur für den Konzernchef.
An diesem Morgen hatte der Privatfahrstuhl die Mitglieder des Direktoriums nach oben befördert, die in den Stunden zuvor aus verschiedenen Teilen der Welt eingetroffen waren, per Flugzeug, Eisenbahn, Hubschrauber oder Limousine. Jetzt waren sie alle in dem großen Konferenzsaal mit der hohen Decke und kostbaren Eichentäfelung versammelt: Sir Alec Nichols, Walther Gassner, Ivo Palazzi und Charles Martel. Als einziges Nicht-Mitglied des Direktoriums war Rhys Williams zugegen.
Auf einer Anrichte waren Appetithappen und Getränke aufgebaut, aber keiner zeigte Hunger. Die Atmosphäre war angespannt, nervös; jeder hing seinen Gedanken nach.
Kate Erling, eine tüchtige Schweizerin in den späten Vierzigern, kam herein und meldete: »Miss Roffes Wagen ist soeben vorgefahren.«
Ein letztes Mal prüfte sie, ob auch alles in Ordnung war: Kugelschreiber, Notizblöcke, eine Silberkaraffe mit Wasser vor jedem Platz, Zigarren und Zigaretten, Aschenbecher und Streichhölzer. Fünfzehn Jahre lang war Kate Erling Sam Roffes Chefsekretärin gewesen, und dass er jetzt tot war, gab ihr nicht im mindesten Anlass, ihre Pflichten zu vernachlässigen. Schließlich nickte sie zufrieden und zog sich zurück.
Vor dem Hauptgebäude stieg Elizabeth Roffe aus der Limousine. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse, kein Make-up. Sie sah bedeutend jünger aus als ihre vierundzwanzig Jahre, wirkte blass und verwundbar.
Sie wurde bereits von der Presse erwartet. Schon nach wenigen Schritten war sie von Reportern umringt, von Funk und Fernsehen mit Kameras und Mikrofonen belagert.
»Ich bin von L’Europe, Miss Roffe. Wir hätten gern eine Stellungnahme. Wer übernimmt jetzt den Konzern -«
»Bitte hierhersehen, Miss Roffe. Schenken Sie unseren Zuschauern ein Lächeln.«
»Associated Press. Miss Roffe, was ist mit dem Testament Ihres Vaters?«
»Ich vertrete die New Yorker Daily News. War Ihr Vater nicht ein versierter Bergsteiger? Weiß man, wie -«
»Wall Street Journal. Können Sie uns etwas über die Konzernfinanzen -«
»Ich komme von der Times, London. Wir wollen einen Artikel über Roffe und -«
Eskortiert von drei Leibwächtern kämpfte sich Elizabeth zur Eingangshalle vor; es war, als müsste sie ein aufgewühltes Meer von Menschen durchqueren.
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