Dann Helene Roffe-Martel und ihr Mann Charles in Paris. Elizabeth war aus Helene nie so recht klug und auch nicht warm mit ihr geworden. Zwar war diese ihr immer zuvorkommend begegnet, doch Elizabeth hatte nie die Mauer kühler Reserve durchdringen können, mit der Helene sich umgab. Charles war Chef des französischen Zweigs der Firma. Er war kompetent, aber aus Bemerkungen ihres Vaters schloss Elizabeth, dass es ihm an Energie und Elan fehlte. Er konnte zwar Anordnungen befolgen, zeigte selbst aber keine Initiative. Sam hatte ihn nie durch jemand anderen ersetzt, denn die französische Niederlassung entwickelte sich hervorragend. Nach Elizabeths Mutmaßungen trug Helene heimlich den entscheidenden Anteil am Erfolg.
Ihre deutsche Kusine, Anna Roffe-Gassner, und deren Mann Walther mochte Elizabeth gern. Sie erinnerte sich an Familienklatsch, wonach Anna unter ihrem Stand geheiratet hatte. Walther Gassner, so hieß es, war das schwarze Schaf der Familie, ein Glücksritter, der sich eine unansehnliche ältere Frau um ihres Geldes willen geangelt hatte. Elizabeth allerdings hielt ihre Kusine nicht für hässlich. Anna war ein scheues, sensibles Wesen, in sich zurückgezogen und nicht frei von Lebensangst. Walther wiederum hatte sie auf den ersten Blick gemocht. Er hatte das klassische Aussehen eines Filmhelden, war aber weder arrogant noch oberflächlich. Außerdem schien er Anna in aufrichtiger Liebe verbunden zu sein, und Elizabeth dachte nicht daran, den schrecklichen Geschichten über ihn Glauben zu schenken.
Doch von all ihren Vettern und Kusinen war Alec Nichols ihr der liebste. Seine Mutter, eine Roffe, hatte Sir George Nichols geheiratet, den dritten Baronet seines Stammes. Alec war es, an den sich Elizabeth stets wandte, wenn sie ein Problem hatte. Vielleicht lag es an Alecs ausgeprägter Sensibilität und seinem sanften Wesen, dass Elizabeth als Kind in ihm noch am ehesten eine Vertrauensperson fand, und nun wurde ihr bewusst, welch großes Kompliment sie Alec damit gezollt hatte. Er hatte sie immer als Gleichgestellte behandelt, war stets hilfsbereit gewesen. Elizabeth erinnerte sich, wie sie einmal, in einem Augenblick tiefster Verzweiflung, den Entschluss zum Durchbrennen gefasst hatte. Ihr Koffer war bereits gepackt, und dann, getrieben von einem plötzlichen Impuls, hatte sie Alec in London angerufen, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Alec war mitten in einer Konferenz gewesen, aber er eilte sofort ans Telefon und redete über eine Stunde lang mit ihr. Und als er aufgelegt hatte, entschloss sich Elizabeth, ihrem Vater zu verzeihen und ihm eine letzte Chance zu geben. Derart war ihre Verbindung zu Sir Alec Nichols. Zu seiner Frau Vivian stand sie ganz anders. War Alec großzügig und rücksichtsvoll, so erschien Vivian ihr selbstsüchtig und oberflächlich. Sie war die egoistischste Frau, der Elizabeth jemals begegnet war.
Jahre zuvor, als Elizabeth ein Wochenende bei den Nichols auf deren Landsitz in Gloucestershire verbrachte, hatte sie sich allein zu einem Picknick aufgemacht. Doch es fing zu regnen an, und Elizabeth kehrte früher als erwartet zurück. Sie kam durch die Gartentür, und als sie die Halle durchqueren wollte, hörte sie laute Stimmen aus dem Arbeitszimmer, wurde Zeugin eines Streits.
»Ich hab’ die Nase voll vom Kindermädchenspielen.« Das war Vivians Stimme. »Du kannst dir deine süße kleine Kusine unter den Arm klemmen und sie heute abend allein unterhalten. Ich fahre nach London, hab’ eine Verabredung.«
»Aber Viv, die kannst du doch absagen. Das Kind bleibt nur noch einen Tag bei uns, und -«
»Tut mir leid, Alec, kommt nicht in Frage. Ich hab’ Lust auf ‘nen guten Fick, und heute abend verschaff ich ihn mir, da kannst du Gift drauf nehmen.«
»Vivian, bitte, um Gottes willen!«
»Ach, Mann, steck ihn dir doch in den Arsch. Versuch nicht dauernd, mich zu kommandieren.«
Im selben Augenblick, ehe Elizabeth sich von der Stelle bewegen konnte, kam Vivian aus dem Zimmer gestürmt. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf Elizabeths vor Entsetzen versteinertes Gesicht und rief ihr fröhlich zu: »Schon wieder da, Baby?« Und damit verschwand sie in die oberen Gemächer.
In der Tür zum Arbeitszimmer stand Alec. Er sagte ganz sanft: »Komm herein, Elizabeth.«
Zögernd kam sie näher. Alecs Gesicht war vor Scham hochrot. Wie gern hätte Elizabeth ihn getröstet, aber sie wusste nicht, wie. Alec trat an einen großen Refektoriumstisch, nahm eine Pfeife, stopfte sie und zündete sie an. Seine Bewegungen schienen eine halbe Ewigkeit zu dauern.
Schließlich sprach Alec. »Du musst Verständnis für Vivian haben.«
»Aber Alec, das geht mich doch gar nichts an«, stammelte sie. »Ich -«
»Doch, irgendwie schon. Wir sind alle eine Familie. Und ich möchte nicht, dass du vorschnell über sie urteilst.«
Elizabeth traute ihren Ohren nicht. Nach der unglaublichen Szene, die sie soeben mit angehört hatte, verteidigte Alec seine Frau noch.
»Manchmal«, fuhr Alec fort, »ist das so in einer Ehe. Ein Mann und eine Frau mit unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen.« In einer Verlegenheitspause suchte er nach den rechten Worten. »Und ich möchte nicht, dass du Vivian die Schuld dafür gibst, dass - dass ich einige ihrer Bedürfnisse nicht erfüllen kann. Das kann man ihr nicht anlasten, verstehst du?«
Elizabeth hatte nicht an sich halten können. »Hat sie das - ich meine, geht sie oft mit anderen Männern aus?«
»Ich fürchte, das tut sie.«
Vor Entsetzen konnte Elizabeth zuerst keine Worte finden. Dann sagte sie: »Warum trennst du dich nicht von ihr?«
Sie sah nur sein mildes Lächeln. »Das kann ich nicht, mein Kind. Versteh doch, schließlich liebe ich sie.«
Am Tag darauf war Elizabeth in die Schweiz zurückgekehrt. Von da an fühlte sie sich Alec näher verbunden als allen anderen.
In jüngster Zeit hatte sich Elizabeth zunehmend Sorgen um ihren Vater gemacht. Er schien häufig in Gedanken versunken. Irgend etwas beschäftigte ihn stark, aber Elizabeth hatte keine Ahnung, worum es ging. Als sie ihn eines Tages rundheraus fragte, bekam sie zur Antwort: »Nur ein kleines Problem, für das ich eine Lösung finden muss. Ich erkläre es dir später.«
Er zeigte sich in letzter Zeit verschlossen, und Elizabeth bekam keinen Zugang mehr zu vertraulichen Unterlagen. Als er ihr eröffnete: »Morgen fahre ich nach Chamonix, will endlich mal wieder ein bisschen Bewegung haben«, war Elizabeth erleichtert. Sie fühlte, er brauchte Entspannung. Er hatte an Gewicht verloren und sah abgespannt aus.
»Ich werde gleich für dich buchen«, hatte sie geantwortet.
»Mach dir keine Mühe, ist bereits geschehen.«
Auch das sah ihm gar nicht ähnlich. Am Morgen darauf war er abgereist. Und Elizabeth hatte ihn zum letztenmal gesehen.
Jetzt wusste sie: Es war ein Abschied für immer gewesen. Sie lag in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer, und ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück. Der Tod ihres Vaters war für sie um so unwirklicher, weil sie Sam so unglaublich lebendig in Erinnerung hatte.
Als letzter männlicher Erbe trug er den Namen Roffe. Was würde jetzt aus dem Konzern werden? Ihr Vater war Hauptanteilseigner gewesen. Wem er wohl seine Aktien vererbt hatte?
Die Antwort erhielt sie am späten Nachmittag des folgenden Tages. Sams Anwalt war in dem Haus auf Long Island erschienen. »Ich habe eine Kopie des Testaments Ihres Vaters mitgebracht. Ich behellige Sie nur ungern in Ihrem Schmerz, aber ich meine, Sie sollten sofort Bescheid wissen. Ihres Vaters einziger Erbe sind Sie. Mit anderen Worten: In Ihren Händen liegt jetzt die Aktienmehrheit von Roffe und Söhne.«
Elizabeth konnte es nicht glauben. Das sollte doch sicher nicht heißen, dass sie von nun an das Familienunternehmen leiten musste? »Aber warum?« fragte sie immer wieder. »Warum gerade ich?«
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