Schwere Schritte, zu schwer für ihre Mutter. Ihr Vater musste früher als geplant zurückgekehrt sein. Ein Lichtstrahl fiel herein, als oben die Tür zum Keller geöffnet wurde. Warum war er denn jetzt schon zurück? In Panik senkte Nadja den Deckel möglichst geräuschlos, während sie schon hörte, wie ihr Vater die Treppe herunterkam. Als der Deckel zu war, kniete sie sich hin und krabbelte unter das Bett. Nicht viel Platz, sie machte sich ganz klein und behielt die unterste Treppenstufe im Auge. Da waren sie. Die schweren, schwarzen Stiefel kamen direkt auf sie zu.
Nadja kniff die Augen zusammen und rechnete damit, sein wütendes Gesicht direkt vor sich zu sehen, wenn sie sie wieder aufmachte. Stattdessen quietschte das ganze Bett und gab nach. Er hatte sich daraufgesetzt. Sie machte die Augen auf und musste beiseite kriechen, denn die Lücke zwischen dem Bett und dem Boden war jetzt noch schmaler. Nadja sah, wie er anfing, sich die Stiefel aufzuschnüren. Er hatte nicht gemerkt, dass sie hier unten war. Das Schloss war wohl wieder zugefallen, als sie die Tür geschlossen hatte. Er hatte sie nicht erwischt, jedenfalls noch nicht. Und was sollte sie jetzt machen? Vielleicht blieb ihr Vater stundenlang hier unten. Ihre Mutter würde heimkehren und erschreckt feststellen, dass sie nicht zu Hause war. Vielleicht würden sie denken, dass sie verschwunden war, und sie suchen gehen. Dann könnte sie sich hinaufschleichen und sich eine Lüge ausdenken, wo sie gewesen war. Wenn alles glattlief. Bis dahin musste sie bleiben, wo sie war, und durfte keinen Mucks von sich geben.
Ihr Vater hatte sich die Socken ausgezogen und streckte seine Zehen. Er stand auf, wobei sich das Bett mit ihm hob, und entzündete die Lampe, die ein schwaches Licht warf. Dann ging er zur Truhe. Nadja konnte hören, wie er den Deckel aufmachte, aber sie sah nicht, was er herausnahm. Offenbar hatte er den Deckel aufgelassen, denn sie hörte nicht, dass er wieder zuging. Was machte ihr Vater bloß? Jetzt saß er auf einem der Stühle und band sich etwas um den Fuß. Ein Stück Gummi. Dazu noch eine Schnur und ein paar Lumpen, er schien sich eine Art Schuh zu basteln.
Nadja spürte etwas hinter sich und wandte den Kopf. Es war die Katze. Die hatte sie ihrerseits bemerkt, sie machte einen Buckel und sträubte das Fell. Sie schien zu wissen, dass Nadja hier unten nichts zu suchen hatte. Ängstlich wandte Nadja sich um und schaute, ob ihr Vater sie bemerkt hatte. Er ließ sich auf die Knie fallen, und sein Gesicht tauchte zwischen Bettkante und Boden auf. Nadja wusste nicht, was sie sagen sollte, und wagte nicht, sich zu rühren. Ohne ein Wort stand ihr Vater auf und klappte das ganze Bett nach oben, sodass sie offen dalag, zusammengerollt wie eine Kugel.
»Steh auf!«
Sie konnte weder Arme noch Beine bewegen, ihr ganzer Körper verweigerte den Dienst.
»Nadja!«
Sie hörte ihren Namen und stand auf.
»Komm von der Wand da weg!«
Sie gehorchte. Mit gesenktem Kopf ging sie auf ihren Vater zu und starrte dabei seine Füße an, der eine nackt und der andere in Lumpen gehüllt. Er klappte das Bett wieder herunter und rückte es zurecht.
»Warum bist du hier unten?«
»Ich wollte wissen, was du hier machst.«
»Warum?«
»Weil ich öfter mit dir zusammen sein will.«
Andrej verspürte wieder diesen Drang. Sie waren allein zu Hause. Sie hätte nicht herunterkommen sollen. Er hatte es ihr extra gesagt, zu ihrem eigenen Schutz. Hier war er ein anderer Mensch, nicht mehr ihr Vater. Er drückte sich rückwärts von seiner Tochter weg, bis er an der Wand stand, so weit, wie der Raum es nur zuließ.
»Vater?«
Andrej hob einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr zu schweigen. Reiß dich zusammen!
Aber er schaffte es nicht. Er nahm die Brille ab, klappte sie zusammen und steckte sie sich in die Tasche. Als er jetzt wieder seine Tochter anschaute, war sie nur noch ein verschwommener Schemen, gar nicht mehr sein Mädchen. Eine vage, unbestimmte Gestalt, irgendein x-beliebiges Kind.
»Vater?« Nadja stand auf, ging zu ihrem Vater und nahm seine Hand. »Hast du denn gar keine Lust, mit mir zusammen zu sein?«
Jetzt war sie zu nah, selbst ohne Brille. Er konnte ihr Haar sehen, ihr Gesicht. Er wischte sich über die Augenbrauen und setzte seine Brille wieder auf.
»Nadja, du hast doch eine kleine Schwester. Warum spielst du denn nicht mit der? Als ich so alt war wie du, war ich immer mit meinem Bruder zusammen.«
»Du hast einen Bruder?«
»Ja.«
»Wo ist er?«
Andrej zeigte auf die Wand, wo die Fotos mit dem russischen Soldaten hingen.
»Wie heißt er?«
»Pavel.«
»Und warum kommt er uns nicht besuchen?«
»Das wird er schon noch.«
8 Kilometer nördlich von Rostow am Don
16. Juli
Sie bestiegen eine Elektritschka, die die Außenbezirke der Stadt abklapperte und Leo und Raisa langsam ihrem Ziel näherbrachte, dem Zentrum von Rostow am Don. Der Lastwagenfahrer hatte sie nicht verraten. Er hatte sie durch mehrere Straßensperren gebracht und sie in Schachty abgesetzt, wo sie die Nacht bei seiner Schwiegermutter und deren Familie verbracht hatten, einer Frau namens Sara Karlowna. Sara war Ende fünfzig und lebte mit einigen ihrer Kinder zusammen, darunter einer verheirateten Tochter, die selbst schon wieder drei Kinder hatte. Auch Saras Eltern lebten in der Wohnung, somit also insgesamt elf Personen in drei Schlafzimmern, pro Zimmer eine Generation. Leo hatte jetzt bereits zum dritten Mal die Geschichte über seine Ermittlungen erzählt, aber anders als in den Städten im Norden hatte man hier bereits von den Kindermorden gehört. Sara wusste zu berichten, dass es nur wenige Leute in der Oblast gab, die die Gerüchte noch nicht mitbekommen hatten. Aber etwas Genaueres wusste hier auch keiner. Als sie die geschätzte Zahl der Opfer hörten, wurde es still.
Die Frage, ob sie helfen würden, hatte nie zur Debatte gestanden. Stattdessen hatte die Großfamilie sofort Pläne geschmiedet. Leo und Raisa wollten bis zur Dämmerung warten, bevor sie ins Stadtzentrum fuhren, weil in der Fabrik abends weniger Leute sein würden. Außerdem bestand so eine größere Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder zu Hause war. Überdies hatte man beschlossen, dass sie sich nicht allein auf den Weg machen sollten. Deshalb befanden sie sich jetzt in Begleitung von drei kleinen Kindern und zwei agilen Großeltern. Leo und Raisa gaben Mutter und Vater ab, die echte Mutter war dafür in Schachty geblieben. Dass sie sich als Familie ausgaben, war eine Vorsichtsmaßnahme. Falls die Jagd nach ihnen schon Rostow erreicht hatte, falls der Staat darauf gekommen war, dass sie nicht vorhatten, das Land zu verlassen, dann würden die Häscher nach einem Mann und einer Frau suchen, die zusammen unterwegs waren. Ihr äußeres Erscheinungsbild gravierend zu verändern, war ihnen nicht möglich gewesen. Sie hatten sich beide die Haare kurz geschnitten, und man hatte ihnen neue Kleider gegeben. Trotzdem wären sie ohne die Familie in ihrer Begleitung leicht zu identifizieren gewesen. Raisa hatte Bedenken geäußert, die Kinder mitzunehmen, weil sie Sorge hatte, sie in Gefahr zu bringen. Daraufhin hatte man beschlossen, dass, falls etwas schiefging und sie geschnappt wurden, die Großeltern behaupten sollten, Leo habe sie bedroht und sie hätten um ihr Leben gefürchtet, wenn sie ihm nicht halfen.
Der Zug hielt an. Leo schaute aus dem Fenster. Im Bahnhof herrschte reger Betrieb. Er sah mehrere uniformierte Polizisten auf dem Bahnhof patrouillieren. Zu siebent stiegen sie aus. Raisa trug das jüngste Kind, einen kleinen Jungen. Allen drei Kindern hatte man eingeschärft, sich möglichst ausgelassen zu benehmen. Die älteren beiden Jungen verstanden, worum es bei dem Schwindel ging, und machten ihre Sache gut, aber der Jüngste war verwirrt und glotzte Raisa nur mit herabhängenden Mundwinkeln an. Er spürte die Gefahr und wünschte sich bestimmt, er wäre zu Hause. Aber nur jemand, der ganz genau hinschaute, hätte Verdacht schöpfen können, dass dies gar keine richtige Familie war. Überall auf dem Bahnsteig und dem Querbahnsteig standen Wachen verstreut. Sie suchten jemanden. Leo hatte sich zwar mit dem Gedanken zu beruhigen versucht, dass jede Menge Menschen gesucht und verhaftet wurden, aber sein Bauch sagte ihm, dass sie nach ihnen Ausschau hielten. Der Ausgang war noch 50 Schritt entfernt. Darauf mussten sie sich konzentrieren. Sie waren fast da.
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