»Ich werde dieses Land niemals verlassen.«
»Selbst, wenn dieses Land dich umbringen will?«
»Wenn du überlaufen willst, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, dich auf ein Schiff zu bekommen.«
»Und du? Willst du dich etwa in den Bergen verstecken?«
»Sobald dieser Mann tot ist und du sicher außer Landes bist, werde ich mich stellen. Ich will nicht im Exil leben, unter Leuten, die mich eigentlich hassen und nur an meinen Informationen interessiert sind. Ich will nicht als Ausländer leben. Das kann ich einfach nicht. Es würde bedeuten, dass alles, was diese Leute in Moskau über mich behauptet haben, wahr wäre.«
»Ist das denn so wichtig?« Raisa klang verletzt.
Leo berührte ihren Arm. »Ich verstehe nicht, Raisa.«
»Ist das denn so schwierig zu verstehen? Ich will, dass wir zusammenbleiben.«
Einen Moment lang verschlug es ihm die Sprache. Dann sagte er: »Ich kann nicht als Verräter leben. Ich kann es einfach nicht.«
»Dann bleiben uns wohl noch etwa vierundzwanzig Stunden.«
»Es tut mir leid.«
»Wir sollten für uns das Beste daraus machen.«
»Und wie?«
»Wir sollten einander die Wahrheit sagen.«
»Die Wahrheit?«
»Wir haben doch alle beide bestimmt Geheimnisse voreinander. Ich weiß, dass ich welche habe. Du etwa nicht? Sachen, die du mir nie erzählt hast?«
»Doch.«
»Na gut, ich fange an. Ich habe früher immer in deinen Tee gespuckt. Nachdem ich von Sojas Verhaftung erfahren hatte, war ich mir sicher, dass du sie verpfiffen hattest. Also habe ich ungefähr eine Woche lang in deinen Tee gespuckt.«
»Du hast in meinen Tee gespuckt?«
»Ungefähr eine Woche lang.«
»Und warum hast du damit aufgehört?«
»Es schien dir nichts auszumachen.«
»Ich habe es nicht mal bemerkt.«
»Eben. Jetzt bist du dran.«
»Ehrlich gesagt ...«
»Das ist ja der Sinn der Sache.«
»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass du mich geheiratet hast, weil du Angst hattest. Ich glaube, du hast mich ganz bewusst ausgesucht. Du hast es nur so aussehen lassen, als hättest du Angst. Du hast mir einen falschen Namen genannt, und ich habe dich trotzdem nicht in Ruhe gelassen. Aber ich glaube, dass du mich eigentlich ganz bewusst angepeilt hast.«
»Du meinst, ich bin eine ausländische Agentin?«
»Nein, das glaube ich nicht. Aber ich habe immer damit gerechnet, dass du Leute kennst, die für westliche Geheimdienste arbeiteten. Vielleicht hast du ihnen ja geholfen. Vielleicht war das dein Hintergedanke, als du mich geheiratet hast.«
»Das ist kein Geheimnis, das ist pure Spekulation. Du sollst mir deine Geheimnisse verraten. Tatsachen bitte.«
»Ich habe zwischen deinen Sachen einen Rubel gefunden. Eine Münze, die man auseinandernehmen konnte. Die dient zum Schmuggeln von Mikrofilmen. Sonst hat keiner so etwas.«
»Warum hast du mich nicht denunziert?«
»Ich konnte es nicht.«
»Leo, ich habe dich nicht geheiratet, um in die Nähe des MGB zu kommen. Ich habe dir die Wahrheit schon gesagt. Ich hatte Angst.«
»Und die Münze?«
»Die gehörte mir.« Ihre Stimme verlor sich, so als würde sie abwägen, ob sie weitererzählen sollte. »Ich habe sie nicht verwendet, um Mikrofilme zu schmuggeln. Als Flüchtling hatte ich immer eine Zyanidpaste dabei.«
Raisa hatte ihm noch nie von der Zeit erzählt, nachdem ihre Heimatstadt zerstört worden war. Die Monate unterwegs, die dunkle Zeit ihres Lebens. Nervös wartete Leo darauf, was er zu hören bekommen würde.
»Du kannst dir sicher vorstellen, was man mit den weiblichen Flüchtlingen damals gemacht hat. Die Soldaten hatten so ihre Bedürfnisse. Sie riskierten schließlich ihr Leben, da waren wir ihnen schon was schuldig. Wir waren ihre Belohnung. Einmal - es ist nämlich mehrmals vorgekommen - da hat es so wehgetan, dass ich mir etwas geschworen habe: Wenn es noch einmal passieren würde, wenn es auch nur danach aussähe, dann würde ich dem Kerl das Zeug zwischen die Zähne schmieren. Sie konnten mich umbringen, mich von mir aus aufhängen, aber vielleicht würden sie es sich danach gründlich überlegen, bevor sie das noch einer Frau antaten. Na ja, irgendwie wurde das dann mein Glücksbringer, denn seit ich die Münze bei mir trug, hatte ich nie wieder irgendwelche Schwierigkeiten. Vielleicht spüren Männer, wenn eine Frau Zyanid dabei hat. Die Verletzungen, die ich davongetragen hatte, ließen sich dadurch natürlich nicht mehr heilen. Medizin gab es ja keine. Deshalb kann ich keine Kinder bekommen, Leo.«
Leo starrte in die Dunkelheit, in die Richtung, wo seine Frau sitzen musste. Im Krieg waren die Frauen zuerst von den Besatzern und danach noch einmal von ihren Befreiern vergewaltigt worden. Als Soldat wusste er, dass die Armeeführung solche Vorkommnisse sanktioniert hatte. Das gehörte nun mal zum Krieg, und ein tapferer Soldat hatte sich schließlich eine Belohnung verdient. Manche Frauen hatten Zyanid benutzt, um sich angesichts der bevorstehenden Gräuel das Leben zu nehmen. Leo vermutete, dass die meisten Männer die Frauen vielleicht nach einem Messer oder einer Pistole abgesucht hatten, aber eine Münze wäre ihnen nicht weiter aufgefallen. Er knetete seine Hände. Was sollte er sonst schon tun? Sich entschuldigen? Sagen, dass er sie verstand? Er hatte diesen Zeitungsausschnitt eingerahmt und aufgehängt, stolz und ohne einen blassen Schimmer, was der Krieg für sie bedeutet hatte.
»Leo? Ich habe noch ein Geheimnis. Ich habe mich in dich verliebt.«
»Ich habe dich immer schon geliebt.«
»Das ist kein Geheimnis. Du bist schon drei Geheimnisse im Rückstand.«
Leo küsste sie. »Ich habe einen Bruder.«
15. Juli
Nadja war allein zu Haus. Ihre Mutter und ihre Schwester waren die Großmutter besuchen gegangen. Zunächst hatte Nadja sie begleitet, aber als sie sich dem Wohnblock ihrer Großmutter näherten, hatte sie so getan, als hätte sie Bauchweh, und darum gebeten, umkehren zu dürfen. Ihre Mutter hatte es erlaubt, und Nadja war zurück nach Hause geeilt. Ihr Plan war einfach. Sie würde die Kellertür aufmachen und herausfinden, warum ihr Vater so viel Zeit da unten in diesem Raum verbrachte, der doch bestimmt dunkel und kalt war. Sie selbst war noch nie dort gewesen, nicht ein einziges Mal. Nadja umrundete das Haus, legte die Hände auf die feuchten Ziegelsteine und stellte sich vor, wie es da drinnen war. Es gab keine Fenster, nur ein Abzugsloch für den Ofen. Und der Zutritt war strengstens verboten, eine eiserne Hausregel.
Ihr Vater war im Moment für seine Arbeit unterwegs. Aber er würde bald wiederkommen, vielleicht schon morgen. Sie hatte ihn davon reden hören, dass er einige Reparaturen am Haus vornehmen wollte, unter anderem auch eine neue Kellertür einbauen. Die alte war natürlich wirklich nicht besonders solide, aber trotzdem, warum war das denn so wichtig? In ein paar Tagen würde er eine neue eingebaut haben, und die würde sie dann nicht mehr aufkriegen. Wenn sie einbrechen und Antworten auf ihre Fragen finden wollte, dann musste sie es jetzt machen. Das Schloss bestand nur aus einem einfachen Riegel. Sie schaute ihn sich genau an und versuchte, ein Messer zwischen die Tür und den Rahmen zu zwängen. Das ging.
Der Riegel hob sich, und Nadja drückte die Tür auf. Aufgeregt und gleichzeitig ängstlich machte sie einen Schritt nach unten. Sie zog die Tür hinter sich zu. Ein Rest von Licht stahl sich hinter ihr durch die Ritzen an den Seiten und am Boden der Tür. Sonst kam die einzige Beleuchtung vom Abzug da unten. Nadja versuchte ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen und erreichte den Fuß der Treppe. Sie sah sich in der geheimen Kammer ihres Vaters um.
Ein Bett, ein kleiner Tisch und eine Truhe - geheimnisvoll war das schon mal nicht. Enttäuscht schnüffelte sie herum. An der Wand hing eine alte Lampe, und daneben waren eine Reihe Zeitungsausschnitte aufgehängt. Sie ging darauf zu. Da war ja überall dasselbe drauf: ein Foto von einem russischen Soldaten, der neben einem brennenden Panzer stand. Ein paar von den Fotos waren so ausgeschnitten, dass man nur noch den Soldaten sah. Er sah gut aus, aber es war niemand, den sie kannte. Verblüfft über diese Collage hob sie einen Blechnapf auf, der bestimmt für die Katzen war. Dann fiel ihr Blick auf die Truhe. Sie griff den Deckel und hob ihn hoch, nur ein ganz kleines bisschen, um zu sehen, ob sie die Truhe aufbekam. Der Holzdeckel war schwer, aber abgeschlossen war sie nicht. Was war wohl da drin? Sie hob den Deckel noch ein Stückchen höher. Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es kam von der Haustür.
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