Charlie eilte aus dem Tresorraum und rief nach dem Mädchen. Linda drehte sich um, bemüht, distanzierte Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Aber das gelang ihr nicht, sie hatte einen Blick in den Augen wie ein Reh, das ins blendende Licht von Autoscheinwerfern geraten war.
»Ja, Mrs. Lawton?«, sagte sie leise. »Ist noch etwas?«
Mit einer Handbewegung bedeutete Charlie dem Mädchen, dass sie seine Begleitung in den Tresorraum wünschte. Linda sah sich Hilfe suchend um, aber es war niemand da, der sie hätte retten können. An einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums saß ein Paar im Gespräch mit einem der Angestellten. Die Kassierer hatten an ihren Schaltern zu tun. Die Tür zum Büro des Filialleiters war geschlossen. Es herrschte die typische mittägliche Stille, die dem Ansturm kurz vor Geschäftsschluss am Nachmittag voranzugehen pflegte.
»Ich muss . « Linda drehte einen Ring an ihrer Hand. Es war ein Brillantring. Verlobung oder etwas anderes?, fragte sich Charlie.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie den Auftrag haben, die Kunden im Tresorraum zu bespitzeln«, sagte Charlie. »Ich möchte mich nicht gern beim Filialleiter über sie beschweren müssen. Kommen Sie also mit mir rein, oder soll ich bei ihm anklopfen?«
Linda schluckte. Sie schob sich eine Strähne schwarzen Haars hinters Ohr. Dann folgte sie Charlie.
Der Kasten stand noch auf dem Tisch, wo Charlie ihn zurückgelassen hatte. Wie unter Zwang richtete Linda ihren Blick darauf. Sie schob ihre Hände zusammen und wartete darauf, was Charlie sagen würde.
»Sie haben meinen Mann gekannt. Sein Name war Ihnen bekannt. Sie haben praktisch gesagt, dass er häufig hier war.«
»Ich wollte bei Ihnen nicht den Eindruck erwecken -«
»Sagen Sie mir, was Sie hierüber wissen.« Charlie öffnete den Tresorkasten. »Denn Sie wussten, dass das Geld hier war. Sie haben mich beobachtet. Sie wollten sehen, wie ich reagieren würde.«
Linda sagte hastig: »Ich hätte Sie nicht beobachten sollen. Es tut mir Leid. Ich kann es mir nicht leisten, meine Arbeit zu verlieren. Ich muss für meine kleine Tochter sorgen.«
Erics Kind? Charlie machte sich auf das Schlimmste gefasst.
»Sie ist erst anderthalb Jahre alt«, fuhr Linda fort.
»Ihr Vater zahlt uns keinen Penny, und mein Vater weigert sich, uns bei sich aufzunehmen. Ich arbeite seit einem Jahr hier, und es läuft ziemlich gut. Aber wenn ich jetzt gefeuert werde .«
»Wie lange haben Sie und mein Mann ...? Wie haben Sie einander kennen gelernt?«
»Kennen gelernt?« Linda riss entsetzt die Augen auf, als sie begriff. »Er ist nett, weiter nichts. Er - na ja, er flirtet ganz gern, aber das ist auch alles. Ich wusste nicht, dass er verheiratet ist, bis ich mal auf der Karte Ihren Namen gesehen habe. Und - ehrlich, da ist nichts. Er ist einfach ein guter Typ, er kommt ziemlich häufig, und er hat mich ein bisschen neugierig gemacht. Mehr ist nicht.«
»Sie haben ihn im Tresorraum beobachtet.«
»Nur ein Mal. Ich schwör's. Nur ein einziges Mal. Die anderen Male . Also, anfangs hat er, wenn er kam, um seine Einzahlungen zu machen - auf das Scheckkonto, meine ich -, immer auf mich gewartet. Er ließ andere vor und hat gewartet, bis ich frei war. Einmal ist ihm das Foto von Brittany aufgefallen - das ist meine kleine Tochter, es steht an meinem Schalterfenster, sehen Sie, gleich da drüben -, und er hat mich nach ihr gefragt. So sind wir ins Gespräch gekommen. Er sagte, er hätte auch eine kleine Tochter, aber sie wäre schon älter, und er hätte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Er sagte, dass sie ihm fehlt, und das war alles, worüber wir uns unterhalten haben. Ich weiß, dass er geschieden ist, weil er ein paar Mal von seiner >Exfrau< gesprochen hat, und ich dachte zuerst ... Na ja, er hat mir irgendwie das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein, und ich dachte mir, hey, wäre das nicht klasse, wenn ich hier in der Bank jemanden kennen lernen würde? Ich bediene ihn immer, wenn er kommt, und bin einfach nett und freundlich. Und ich habe nicht den Eindruck, dass er was dagegen hat.«
»Er ist tot.«
»Tot? Oh, mein Gott! Das tut mir Leid. Ich hatte ja keine Ahnung.« Sie wies mit einer Handbewegung zu dem Metallkasten. »Mich hat das hier interessiert, sonst nichts. Ehrlich. Mehr war's nicht.«
»Wie lang liegt es schon hier?«, fragte Charlie. »Das Geld, meine ich.«
»Ich weiß wirklich nicht - zwei Wochen vielleicht? Oder drei?«, sagte Linda. »Er kam irgendwann mal außer der Reihe, nicht an dem Tag, an dem er gewöhnlich seinen Gehaltsscheck einzahlte.«
»Und was war los? Warum haben Sie ihn beobachtet?«
»Weil er - er hat richtig gestrahlt an dem Tag. Er war high!«
»Auf Drogen?«
»Nein, nein. Er war einfach glücklich und vergnügt. Er hatte seinen Aktenkoffer mit und hat geklingelt, genau wie Sie vorhin, und ich bin hinübergegangen, und er hat die Karte unterzeichnet. Dann hat er gesagt: >Ich bin froh, dass Sie mich bedienen, Linda. An diesem Tag würde ich niemand anderem vertrauen.««
>»An diesem Tag