»Wie nett«, sagte Siri. »Und seither haben Sie nichts mehr von Hong Lan gehört?«
»Es gab natürlich die eine oder andere Geschichte. Laos gilt schließlich nicht umsonst als der Welt größte Gerüchteküche. Aber das ist Ihnen sicher nicht neu, Onkel.«
»Und wie glaubwürdig klangen diese Geschichten?«
»Nicht besonders. Mal hieß es, sie hätten das Mädchen ermordet und die Leiche irgendwo verscharrt. Dann wieder erzählte man sich, die Schwarzen hätten sie nach Kuba geschmuggelt, um sie zur Sexsklavin abzurichten.«
»Und was meinen Sie?«
Sie sah ihn an, als habe sie schon sehr lange niemand mehr nach ihrer Meinung gefragt. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, Onkel. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass sie – Hexerei hin oder her – mit der Liebe, die sie gefunden zu haben glaubte, glücklich geworden ist und in seliger Ahnungslosigkeit irgendwo ihr Dasein fristet.«
»Was hatte Hong Lan für ein Verhältnis zu ihrer Mutter?«, fragte Siri. Wieder zeigte sich die junge Frau erstaunt.
»Jetzt kann ich es ja sagen. Ich bezweifle, dass ich die alte Hexe noch einmal zu Gesicht bekommen werde. Hätten sich die beiden nahegestanden, wäre ich überflüssig gewesen. Es war, als ob sie ihre vaterländische Pflicht erfüllt, dem Oberst das gewünschte Kind geboren und es dann sich selbst überlassen hätte. Die Mutter war politisch aktiv. Sie leitete Seminare und organisierte dies und das. Aber ich kann mich nicht entsinnen, dass sie ihre Tochter jemals in den Arm genommen hätte. Ich war nicht ihr erstes Kindermädchen. Die Kleine hatte schon ein halbes Dutzend verschlissen, bevor ich kam.«
»Und ist dennoch wohlgeraten?«
»Außerordentlich wohlgeraten sogar. Das kommt davon, wenn man seine Kinder von einer Montagnard erziehen lässt.«
»Dann weiß ich ja, was ich zu tun habe, wenn ich das nächste Mal Vater werde.« Beide lachten, und der Mann steckte sein hässliches Haupt durchs Fenster, um zu sehen, worüber sie sich amüsierten.
H’Loi würdigte ihn keines Blickes. »Ich frage mich oft, ob sie für den Zauber vielleicht weniger empfänglich gewesen wäre, wenn sie von ihrer Familie etwas mehr Liebe bekommen hätte.«
»Wer hat Sie am Tag der Entführung in den Garten geschickt, um Obst zu pflücken?«
Wieder lachte H’Loi. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich an so etwas erinnere? Ich bin schließlich nur eine einfache Hausfrau.«
»Madame«, entgegnete Siri ernst, »mir sind in meinem Leben schon viele einfache Hausfrauen begegnet, und glauben Sie mir, Sie gehören nicht dazu. Sie sind eine äußerst scharfsinnige, intelligente Frau.« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Noch nie hatte ihr jemand ein solches Kompliment gemacht. Dass es von einem gebildeten Mann, noch dazu von einem Arzt kam, ließ es noch glaubwürdiger erscheinen. Noch wahrhaftiger. Eine einzelne Träne schwoll in ihrem Augenwinkel und rollte ihr über die Wange.
»Ich glaube, es war Hong Lan«, sagte sie und wischte sie eilig fort.
»Was?«
»Die mich zum Obstpflücken in den Garten schickte. Sie war die Einzige, die so etwas aß. Ich habe noch nie jemanden so viel Obst essen sehen, der danach nicht den halben Tag auf der Toilette verbracht hätte. Ihre Mutter ernährte sich jahrelang ausschließlich von Reis und Schweineschwarte. Vielleicht war sie deshalb ein solches Ekel.«
»Glauben Sie, Hong Lan ist noch am Leben?«
»Doktor … wenn ich ehrlich bin, spüre ich ihre Gegenwart nicht mehr.«
Auf dem Rückweg ins Tal verlief Siri sich gleich dreimal, doch da alle Wege ihn früher oder später zu der einzigen Straße führen würden, ließ er sich davon nicht beirren. Die untergehende Sonne schlug ihn in ihren Bann. Sie sah aus wie eine riesige Pistolenkugel, die den Horizont in Zeitlupe durchbohrte. Rotes Blut quoll aus der Einschusswunde und versickerte zwischen den Hügeln. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die forensische Pathologie seinen Sinn für die Natur zu trüben drohte.
An der Vortreppe des Gebäudes angekommen, sah er Dtui und Panoy unter einem don soak , einem Trauerbaum, sitzen. Er trat zu ihnen.
»Hallo«, sagte er. »Macht ihr ein Picknick?«
»Sie wollen uns nicht ins Haus lassen«, erklärte Dtui.
»In welches Haus?«
»Ins Gästehaus Nr. 1.«
»Und warum nicht?«
»Weil dieses kleine Mädchen« – Panoy blickte auf und streckte die Hand lächelnd nach Siris Augenbrauen aus – »sich angeblich illegal hier aufhält. Und Gäste, die nicht auf der offiziellen Parteiliste stehen, dürfen das Haus nicht betreten.«
»Aber gestern hat sie doch auch hier übernachtet.«
Dtui äffte den gestrengen Tonfall der Leiterin des Gästehauses nach. »›Das war ein eklatanter Verstoß gegen die Vorschriften, der nicht ungeahndet bleiben wird.‹ Wenn jemand mitbekommen hätte, dass wir sie ins Haus geschmuggelt haben, wären wir vermutlich standrechtlich erschossen worden.«
»Ich nehme an, Sie haben das Thema bereits hinlänglich mit der Dame diskutiert.«
Sie lächelte. »Ich habe mir den Mund fusselig geredet.«
»Dann wollen wir ihr doch noch einmal unsere Aufwartung machen und unserem Protest gegen alberne Vorschriften wie diese gebührend Ausdruck verleihen.«
Die Leiterin stand, noch immer in Tarnanzug und Schürze, mit verschränkten Armen oben an der Treppe. Sie schien mit diesem zweiten Überfall gerechnet zu haben. Siri hielt einen Augenblick inne und musterte den Feind. Die Frau hatte sich Siri nie vorgestellt, obwohl sie bei jeder Mahlzeit, Besprechung oder anderweitigen Zusammenkunft im Hintergrund zu lauern schien. Sie war um die vierzig und von furchteinflößender Körperfülle, aber Siri hatte schon mächtigeren Gegnern die Stirn geboten.
»Guten Abend, Genossin«, sagte Siri lächelnd.
Die Frau antwortete mit einer offenbar sorgfältig zurechtgelegten kleinen Rede. »Es tut mir leid, Doktor. Ich kann sie nicht ins Haus lassen. Die Vorschriften verbieten das ausdrücklich. Den gestrigen Verstoß habe ich bereits gemeldet.«
»Sie braucht kein eigenes Zimmer«, versuchte er sie zu überreden.
»Sie ist nicht registriert. Und hat deshalb auch keinen Zutritt.«
»Aber ich dachte, das hier sei ein Gästehaus.«
»Nicht diese Sorte Gästehaus.«
»Sie meinen, die Sorte, die Gäste aufnimmt?«
»Nur, sofern diese Gäste auch auf der Liste stehen.« Sie war ein unbewegliches Objekt. »Vorschriften sind Vorschriften. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder tun und lassen würde, was er will?«
»Ganz recht. Und wie verhält es sich mit Beweisen?«, fragte die unaufhaltsame Kraft namens Dr. Siri.
»Ich … was?«
»Beweise, Genossin. Ich bin der staatliche Leichenbeschauer. Ich bin im Auftrag des Präsidenten in den Norden gekommen, um Beweise zu sammeln.«
»Sind Beweise nicht in aller Regel Gegenstände?«
»Durchaus, jawohl. Aber auch ein Foto oder eine Aussage kann ein Beweisstück sein. Oder eine Person, die Beweise am Körper trägt.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.«
»Dieses kleine Mädchen« – er zerrte Dtui, die Panoy im Arm hielt, hinter seinem Rücken hervor – »ist mit Fingerabdrücken förmlich übersät.«
»Fingerabdrücke an einem Menschen? Das soll wohl ein Witz sein?«
»Mir scheint, Sie sind mit den jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Forensik nur unzureichend vertraut. Was glauben Sie wohl, warum wir sie gestern Abend nicht haben duschen lassen? Nach dem Gesetz – und ich bin nicht nur Leichenbeschauer, sondern auch Jurist, ich weiß also, wovon ich spreche – ist dieses Mädchen gar keine Person im eigentlichen Sinne. Sie ist ein Corpus Delicti. Kurz gesagt, sie ist mein Beweisstück. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Fingerabdrücke von ihr zu entfernen und ins Justizministerium zu bringen, würde ich das selbstverständlich tun. Aber das wäre eine recht blutige und ethisch kaum zu vertretende Angelegenheit. Sie ist das Beweisstück, an dem sich die Fingerabdrücke befinden. Sie brauchen sich also weiter keine Sorgen zu machen, weil das Mädchen nicht auf Ihrer Liste steht.«
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