»Den gab es noch? Ich dachte, die Viet Minh wären Ende 75 abgezogen.«
Der alte Soldat lachte, machte sich jedoch nicht die Mühe, dieses Gaunerstück der PL näher zu erläutern.
»Und weiter?«, wollte Dtui wissen.
»Nichts weiter.«
»Was soll das heißen?«
»Wir haben nichts mehr davon gehört.«
»Und Sie haben auch nicht nachgefragt?«
»Am nächsten Morgen sind wir nach Xam Neua zurückgefahren und haben uns mit dem Bauinspektor getroffen. Er verlangte ein paar kleinere Änderungen. Sie wissen ja, wie diese Leute sind. Damit war die Angelegenheit für uns beendet. Wir hatten sie eigentlich schon vergessen.«
»Himmel! Ich an Ihrer Stelle wäre geplatzt vor lauter Neugier«, sagte Dtui.
»Stimmt«, bestätigte Siri. »Ich habe Schwester Dtui bereits des Öfteren vor Neugier platzen sehen, und ich kann Ihnen sagen, Bui, das ist weiß Gott kein schöner Anblick.«
Zwei Stunden vor Einbruch der Dunkelheit kehrten Siri und Dtui nach Vieng Xai zurück. Sie schauten rasch im Gästehaus vorbei, um nach Panoy zu sehen. Lit hatte drei Nachrichten für sie hinterlassen, mit der Bitte, sich schnellstmöglich mit ihm in Verbindung zu setzen. Siri und Dtui ignorierten sie, packten zwei Taschenlampen sowie diverses Werkzeug ein und machten sich zu den Höhlen auf.
Als sie die Konzerthalle betraten, staunte Dtui nicht schlecht. Ohne die nächtlichen Tänzer kam sie dem Doktor noch größer vor.
»Seit unserer Ankunft in Houaphan zieht mich irgendetwas hierher«, gestand Siri. »Ich hätte vermutlich auf meinen Instinkt hören sollen.«
»Die ist ja riesig«, sagte Dtui. »Wo fangen wir mit der Suche an?«
»Oben befinden sich die Unterkünfte und das Generalsquartier. Darunter liegt dieser Saal, und dort hinten gibt es mehrere Nischen und einen langen Tunnel, der quer durch den Berg in den Mess- und Küchenbereich führt. Ich schlage vor, wir folgen einfach unserem Riecher und sehen uns ein wenig um.«
»Doc?« Dtui ließ den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über die hohen, gewölbten Wände wandern. Die unregelmäßigen Felsvorsprünge warfen bedrohliche Schatten. »Wir sind … äh … ganz allein hier, nicht?«
»Das will ich doch stark hoffen«, antwortete Siri. »Jedenfalls bis Mitternacht.«
»Wieso bis Mitternacht?«
»Weil dann die Disco losgeht.«
Er näherte sich der Bühne, während sie sich fragte, ob das einer von Dr. Siris dummen Witzen war oder sie ernstlich um seinen Verstand fürchten musste. Gemeinsam suchten sie die Wände nach Zeichen oder Symbolen wie denen ab, die sie am Altar gesehen hatten. Ohne Erfolg. Blieb die Frage, weshalb die beiden Kubaner mit Hong Lan hierhergekommen waren, wo sie doch in der Präsidentenhöhle einen Opferschrein errichtet hatten?
Sie durchkämmten das Auditorium Zentimeter für Zentimeter und machten sich dann an die Untersuchung der Höhlennischen. Hier hatte die Armeeführung militärische Strategien entwickelt, sich in der Kunst des Bombenbauens und des Guerillakriegs geübt und bei Kerzenlicht Tischtennis gespielt. Es gab einen kleinen Raum, in dem von Dr. Siri persönlich angelernte Krankenschwestern Medikamente verabreicht hatten, und einen weiteren, der als Waffenkammer genutzt worden war. Aber keiner von ihnen gab ein Geheimnis preis.
»Gehen wir zur Küche durch«, beschloss Siri, als sie sich dem schmalen Tunnel näherten, der fünfzig Meter weit in den massiven Fels hineinreichte. Sie stiegen über einen unterirdischen Bach hinweg, der in einer Betonrinne verlief und einst als Sammelstelle für Trinkwasser gedient hatte. Siri betrat den Tunnel als erster – und blieb schlagartig stehen. Fast hätte Dtui ihn über den Haufen gerannt.
»He«, sagte sie.
»Dtui, treten Sie ein Stück zurück.«
Sie gehorchte. »Was ist denn?«
Siri war aus zwei Gründen stehen geblieben. Zum einen hatte er das Gefühl, dass in seinen Beinen die Beine eines anderen steckten, die in die entgegengesetzte Richtung wollten. Zum anderen erinnerte er sich an die Vision, die ihm im Waschraum des Gästehauses zuteilgeworden war – Isandro, dessen Leiche friedvoll im Wasser lag. Er drehte sich um und inspizierte die etwa zwei Meter lange Wasserrinne. Das Quellwasser sammelte sich auf der einen Seite des Ganges und floss auf der anderen wieder ab. Sobald es den schmalen Kanal verlassen hatte, suchte es sich rasch seinen Weg und verschwand zwischen den Felsen.
»Leuchten Sie mal hierher, Dtui.« Auf einer Länge von drei oder vier Metern fiel der Boden sanft ab. Die Erde war eine Mischung aus Lehm, Sand und feinem Kies. Es war eine der wenigen Stellen, die man seinerzeit nicht zubetoniert hatte, vermutlich wegen des fließenden Wassers. Ohne seine alten Ledersandalen auszuziehen, stieg Siri in das knöcheltiefe Nass und ging in die Hocke.
»Sehen Sie etwas?«, fragte Dtui.
»Ich weiß nicht genau. Wären Sie wohl so gut, ein paar Meter zurückzutreten und die Lampe anders zu halten?« Sie gehorchte. »Ein bisschen höher, wenn es geht. Ausgezeichnet. Fällt Ihnen etwas auf?«
Sie tat ihr Bestes. Sie kniff die Augen zusammen, rüttelte und schüttelte die Lampe und gab sich alle Mühe, etwas zu sehen, konnte außer den welligen Furchen jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Es sei denn natürlich, die Furchen … Sie hob die Lampe noch höher und ging langsam zurück in Siris Richtung. Endlich sah sie, was er gesehen hatte. Es mochte an der Dichte oder Beschaffenheit des Bodens oder an der leichten Erhöhung liegen, aber sie erkannte zwei ovale Umrisse. Sie lagen direkt nebeneinander und waren so gleichmäßig und akkurat angeordnet, dass sie unmöglich auf natürliche Art und Weise entstanden sein konnten.
»Ja, ich sehe sie, Dr. Siri. Sie glauben doch nicht etwa …?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Er richtete sich auf und ließ seinen alten Armeerucksack von seinen Schultern gleiten. Er enthielt das Werkzeug, das sie aus Vientiane mitgebracht hatten. Da sie nicht hatten wissen können, was sie erwartete, waren sie für alle Fälle gerüstet. Er reichte Dtui eine kurzstielige Gartenschaufel und wappnete sich mit einer Maurerkelle.
Zunächst stellten sie fest, dass die Erde rings um die Ovale kompakter war als innerhalb der beiden eiförmigen Gebilde. Was sie in dem Verdacht bestärkte, dass hier womöglich etwas vergraben lag. Dann begannen sie in der Mitte des ersten Ovals zu graben, was ihnen sinnvoller und weniger mühsam erschien, als den ganzen Bereich auf einmal freizulegen. Nachdem sie etwa zwei Handbreit tief gegraben hatten, gingen sie etwas vorsichtiger zu Werke. Wenn hier eine Leiche verscharrt worden war, lag sie vermutlich nicht besonders tief.
Sie buddelten und buddelten – drei, vier, fünf Handbreit tief – und hatten noch immer nichts gefunden. In dem Loch sammelte sich klares Wasser und verursachte immer wieder kleine Lawinen, die ihre Arbeit erheblich erschwerten. Ehe sie sich’s versahen, waren beide patschnass und fröstelten.
Plötzlich hörte Dtui auf zu graben und lehnte sich zurück. »Dr. Siri …«
»Ich weiß«, sagte er.
Sie hatten sieben Handbreit tief gegraben und waren auf festen Lehm gestoßen. Das vermeintliche Grab war leer. Dtui beschlich ein eigenartiges Gefühl. Ihr wurde klar, dass sich ihr Anstands- und Sittlichkeitsempfinden im Laufe des vergangenen Jahres grundlegend geändert hatte. Vorher wäre es ihr im Traum nicht eingefallen, in feuchter Erde zu graben, in der Hoffnung – ja, sie hatte wirklich und wahrhaftig gehofft -, dort eine Leiche zu finden. Sie wusste, dass es Siri ähnlich ging. Was war aus ihr geworden? Ein gemeiner Leichenfledderer, weiter nichts.
»Wir sollten wohl nicht enttäuscht sein«, sagte Siri, als habe er ihre Gedanken gelesen.
»Dann hat es wohl auch keinen Zweck, es an der anderen Stelle zu versuchen«, setzte sie hinzu.
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